Kapitel 6

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Ohne Kana wurde mein Leben wieder langweilig.
Nach ihrem Tod traf ich viele Entscheidungen. Unter anderem jene, dass ich nicht mehr zu meinen Eltern zurückkehren würde.
Ich besaß nur meine Kleidung am Leibe, eine Tasche mit einer Wasserflasche, den kleinen Hammer und die Rasierklinge, welche ich als letzte Erinnerung an Kana einbehalten hatte. Aber das war gar kein Problem.

Meinen Eltern erzählte ich ihnen von einem Stipendium und von einer Wohnung weit außerhalb der Stadt. Sie glaubten meinen Lügen, weil ein Lügner von Sybil enttarnt worden wäre.
Während ich sie anfangs noch regelmäßig besuchte, so stellte sich dies schlagartig ein, als meine Eltern sich scheiden ließen.
Sie waren einander überdrüssig geworden und hatten jeweils Ersatz für den anderen gefunden.
Sie hatten sich dem modernen Gesellschaftsbild angepasst, in dem kaputte Dinge nicht repariert, sondern weggeworfen wurden.

Das Leben ohne Job und elterliche Unterstützung - man mag es kaum glauben - war für mich erschreckend leicht. Es war ungemein einfach, jemanden zu überwältigen und sich seiner Bankdaten zu ermächtigen. Ebenso einfach war es mit dem gestohlenen Geld eine kleine Wohnung zu erwerben.
Wenn du einen sauberen Psycho-Pass hattest, vertraute dir jedermann.
Außerdem konnte man gedankenlos Verbrechen begehen. Wenn ich Hunger hatte stahl ich offensichtlich in den Geschäften. Die Leute bemerkten es, doch sie starrten mich bloß an. Niemand handelte. Es war lachhaft. Ich hätte schon viel früher darauf kommen können.
Die Gesellschaft war der langsamen Verdummung zum Opfer gefallen. Sie vertrauten einem System mehr als ihren eigenen Augen.
‚Sybil sagt-...'
‚Sybil hätte ihn bemerkt, wenn-...'
‚Sybil-...'
Sybil, Syibl, Sybil...
Es ging doch immer nur um Sybil.

Aber Sybil lag falsch.
Zumindest bei mir.
Ich war nicht länger schneeweiß. Ich war eine tiefe Schwärze, verborgen unter einer dicken Schicht aus Schnee und keiner vermochte es zu sehen.
Ich war die Achillessehne dieser Gesellschaft, welche sie sich selbst erschaffen hatte.
Ich war ein Fehler im System.
Ein Aussätziger.
Ich war ein letzter freier Abenteurer, gepeinigt durch die Schmach, dass niemand seine Geschichte lesen wollte.
Letztlich war ich alles, was ich immer bewundert hatte und wurde dennoch von niemandem bemerkt. Ich hätte nie gedacht, dass ein Andersdenker so einsam ist.

Viele Stunden verbrachte ich damit, mich nach meinen eigenen Wünschen zu fragen. Was wollte ich tatsächlich? Was würde mich endlich glücklich machen?
Die Antworten darauf waren nicht leicht zu finden.
Ich wollte ein Andersdenker bleiben.
Andererseits hatte ich genug von der Einsamkeit.
Die einzige Lösung war es, einen anderen Menschen zu finden, der wie ich dachte. So jemanden wie Kana.
Diese Frau hatte mir bewiesen, dass die Menschen noch nicht vergessen hatten, dass man seine Biografie selbst verfassen konnte. Sie unterdrückten und verschleierten ihre wahren Wünsche, doch tief in ihrem Inneren waren sie anders. Grundsätzlich wollten die Menschen auch unter Sybils Herrschaft die Feder nicht aus der Hand geben. Sie unterbanden dieses Gefühl lediglich, weil sie ansonsten unter Sybils wachsamen Augen auffallen würden.
Sie lebten nicht mehr. Sie waren quasi das lebendige Inventar dieses Systems geworden.

Demzufolge hätte ich alleine die Macht, sie wieder zum Leben zu erwecken. Ich könnte eine neue ‚Kana' finden. Diese Person würde aber auch das gleiche Ende wie Kana erfahren müssen.
Wäre das eine Option?
Wäre es etwas Gutes, Menschen zu finden und sie wieder lebendig werden zu lassen? Wenn auch nur für eine kurze Weile? Durfte ich sie nach eigenem Gutdünken von ihrem Dasein als lebendiges Inventar erlösen?
Was wollten die Menschen wirklich? Ein kurzes Leben oder einen langsam siechenden Tod?
Ich möchte hier klar stellen: Ich wollte nie für irgendjemandem etwas Schlechtes. Niemandem. Tief in mir drinnen war ich immer noch reiner Schnee. Und deswegen beschäftigten mich diese Fragen eine sehr, sehr lange Zeit.

Resultierend aus meiner Unsicherheit verbrachte ich Stunde um Stunde in der städtischen Bücherei. Dort durchforstete ich Bücher von Siegmund Freud, Gustav Kafka, Henry Murray und vielen anderen namhaften Psychologen. Ich wollte die Wünsche und Ängste der Menschen besser verstehen und versuchte so viel Wissen wir möglich zu sammeln.
Freud selbst hat es gesagt.
‚Der Mensch ist eben ein ‚unermüdlicher Lustsucher', und jeder Verzicht auf eine einmal genossene Lust wird ihm sehr schwer.'
Meine Lust ist seit jeher das Lesen gewesen. Lesen und folglich die Ansammlung von Wissen und das Erlernen des Unbekanntem.
Obwohl ich meinen Büchern lange Zeit ein wenig untreu gewesen war, so war ich mir doch zu jeder Zeit sicher, dass es mich irgendwann wieder an die Quelle meines Wesens zurückführen würde. Wissen war nach wir vor Macht und nun brauchte ich diese Macht, um wichtige Entscheidungen zu fällen.
Entscheidungen, zu denen die toten Menschen unserer Gesellschaft nicht mehr in der Lage waren.

Schließlich war es ebenfalls Freud, der mir meine Antwort lieferte:
‚Wir streben mehr danach, Schmerz zu vermeiden als Freude zu gewinnen.'

Ich glaubte seinen Worten vorbehaltlos. Warum sollte ich es anzweifeln? Ich hatte es doch mit eigenen Augen gesehen. Dass die Menschen träge waren, bewies bereits ihre Unterwürfigkeit gegenüber Sybil. Sie hatten ihr freies Denken und Handeln aufgegeben und es in die Hände dieses Systems gelegt.
Freuds Aussage war somit für mich nachvollziehbar, wenngleich sie abermals ein geistiges Armutszeugnis der Menschheit unterschrieb.

Ich erinnere mich noch an den Morgen, als neben der Zahl meines Psycho-Passes plötzlich eine Nachricht vom Ministerium angezeigt wurde.
Es war wieder Frühling geworden und dennoch hatte ich an diesem Tag keinerlei Lust, die wieder aufblühende Natur zu erkunden. Mein Leben war furchtbar trist und ich spürte, dass auch mein Geist sich dieser Trägheit anpasste.
Frei von Pflichten und frei von gesellschaftlichen Normen war ich dennoch gefangen in ihnen. Ich nahm das gleiche Frühstück zu mir, wie an jedem anderen Tag und ich überflog die gleiche Zeitung, deren Wahrheitsgehalt man grundsätzlich anzweifeln sollte. Erst am Mittag würde ich mich wieder dazu bequemen in die Bücherei zu gehen.
Beziehungsweise hätte ich mich am Nachmittag dazu bequemt, wenn nicht diese Nachricht eingetroffen wäre.

Ich, der ich doch so fernab von Sybil stehe, hätte nie gedacht, dass dieses System mir eine Mitteilung über meine Zukunft machen würde.
Es war keine besondere Nachricht. Jeder junge Mensch bekam sie in der heutigen Zeit, sobald Sybil beschloss, dass er bereit war in die Berufswelt einzutreten.
Da mein Psycho-Pass stets blütenrein geblieben war, wunderte mich auch die zweifelsfrei hohe A-Bewertung keineswegs. Ich war für vieles qualifiziert, für einiges sogar überqualifiziert.
Zumindest behauptete Sybil das.
Ich hatte die Wahl, die viele andere Menschen niemals bekamen, obwohl ich nie darum gebeten hatte.

Und obwohl ich Sybils Entscheidung als lächerlich empfand, so war der Grundgedanke reizvoll.
Die Ausübung eines Berufes könnte mir neue Möglichkeiten bieten. Es würde meinen eingefahrenen Alltag verändern und meinem Leben vielleicht wieder ein klein wenig Sinn geben. Hieß es nicht immer, dass der Mensch mit seinen Aufgaben wuchs?

So war ich schließlich zwanzig Jahre alt, als ich die verschiedenen Job-Vorschläge durchforstete, die Sybil mir anbot. Es war nach dieser langen Zeit ein großer Schritt, mich auf diese Art wieder der Gesellschaft zuzuwenden.
Obwohl ich noch nie darüber nachgedacht hatte, fiel mir spontan die Oso Privatschule ins Auge. Dort wurde ein neuer Kunstlehrer gesucht. Der Gedanke, andere Menschen etwas zu lehren, reizte mich ab dem Augenblick an, in dem mir diese Option aufgezeigt wurde.
Rückblickend verstehe ich mich in diesem Punkt selbst nicht mehr. Ist es nicht ironisch, dass ausgerechnet ich unterrichten wollte?
Ich, der ich nicht mehr an das eigenständige Denken der Menschen glaubte?
Hatte mein Unterbewusstsein doch noch Hoffnung oder war es etwas anderes?

Etwas anderes. Kozaburo Toma und Toyohisa Senguji waren wahrscheinlich dieses Etwas, denn mit diesen beiden Menschen sollten sich mir erneut völlig fremde Türen öffnen.

Schneeweiße Biografien - Die Geschichte von Makishima ShogoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt