Kapitel 2

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Meine ersten beiden Schuljahre waren eine schöne Zeit.
Ich möchte niemals diese zwei Jahre vergessen, in denen es das Sybil System noch nicht gab. Aufwachsen in einer reichen Familie in einem großen, teuren Haus, verbrachte ich bis zu meiner Einschulung kaum Zeit mit anderen Kindern meines Alters.
Ich stammte aus einer Gesellschaftsschicht, in der Misstrauen und Vorsicht auf der Tagesordnung standen.
Das hatte mich aber nie gestört. Ich hatte meine Mutter und meine Tante. Sie reichten mir all die Jahre als Gesellschaft und sie hatten immer Zeit für mich.

In der Schule hatte ich erstmals mehr Kontakt mit Gleichaltrigen. Das war eine neue Erfahrung.
Obwohl ich bisher immer sehr abgeschieden gelebt hatte, schloss ich schnell Freundschaften. Meine Mutter sagte mir einmal, dass ich Charme hätte und dieser die Menschen für einen einnehmen würde. Diesen Charme setzte ich selbst als Kind schon spielend ein.

Ich erinnere mich nicht mehr an viele Namen, aber ich erinnere mich an Tamako. Er war ein ruhiger Junge aus gutem Hause und wir waren uns in vielen Punkten ähnlich. Jedoch kannte Tamako keine Bücher. Er wusste weder wer Charles Dickens, noch wer Jonathan Swift waren und hatte wahrscheinlich noch nie ein echtes Buch aus Papier in der Hand gehalten.
Viele Wörter, welche ich seit Jahren verwendete, waren für ihn Fremdwörter. Sein Wortschatz war entsprechend katastrophal und sein Weltbild beschränkt.
Als ich damals begriff, wie sehr mich die Bücher geprägt hatten, liebte ich sie umso mehr. Ich fühlte mich durch das Wissen, das ich aus ihnen gewonnen hatte, überlegen.
‚Wissen ist Macht'. Francis Bacon hatte das schön formuliert.
Und das Wissen um die Macht des Wissens ließ mich Stunde um Stunde in der Bücherei meiner Tante verbringen, wo ich langsam begann selbst die Bücher zu lesen, deren Inhalte mir einst nur aus zweiter Hand vermittelt worden waren.

Auch in der Schule sog ich jedes Wort gierig in mich auf. Ich lernte schneller lesen und schreiben als all meine Klassenkameraden. Das war nicht verwunderlich, denn ich hatte - anders als viele andere - einen guten Grund, mich anzustrengen.
Und so lernte ich eine zweite Macht kennen: Die Macht des eigenen Willens und Wollens. Wenn man sich lange genug anstrengt und ein Ziel energisch genug verfolgt, dann kann man über sich selbst hinauswachsen.
Das erste Buch, welches ich vollständig ohne die Hilfe meiner Tante und Mutter las, war ‚Sherlock Holmes'. Damals war ich unglaublich stolz, weil ich mich angestrengt hatte und schlussendlich dafür belohnt wurde. Dieses Gefühl möchte ich niemals missen.
In der heutigen Gesellschaft unter Sybils Augen erfährt das jedoch kaum noch jemand. Die Menschen wachsen nicht mehr über sich selbst hinaus, weil ihnen von Anfang an gesagt wird, was ihre bestmögliche Leistung ist.

Mit Tamako verbrachte ich - obwohl ich mit ihm nie über meine liebsten Geschichten reden konnte - sehr viel Zeit. Er und eine kleine Gruppe von anderen Kindern waren tatsächlich Freunde für mich. Wir lachten zusammen, spielten zusammen und das erste Mal im Leben fügte ich mich in ein soziales Gefüge ein. Ich lernte, dass man nicht all seine eigenen Wünsche umsetzen kann, dass man aber auch nicht immer nachgeben darf.
Eine Gesellschaft lebt durch Geben und Nehmen. Der Mensch, der einst vom Affen abstammendes Rudeltier, brauchte andere Menschen. Deswegen geht man Kompromisse ein und deswegen kann man oftmals die eigenen Wünsche hintenan stellen.
Ich stritt mich und ich verbündete mich. Man lachte und lästerte gleichermaßen und doch funktionierte es komischerweise.

Immer wieder fragte ich mich, was mich mit diesen anderen Kindern verband, sodass ich bereit war, mich ihren Wünschen immer wieder zu beugen.
Ich suchte in vielen Büchern nach Antworten und griff mir manche Fachlektüre, bei der meine Tante den Kopf schüttelte. Es war ihr nicht zu verdenken, denn ich war in der Tat zu jung, um die komplizierten Texte vollständig zu verstehen.

Eines Abends fragte ich dann meine Mutter um Rat und eigentlich hätte ich schon vorher wissen müssen, dass sie stets eine gute Antwort parat hatte.
‚Es sind eure gemeinsamen Hoffnungen und Ängste. Es sind die Dinge, die ständig in euren Köpfen herumspuken und die euch alle miteinander verbinden. Ohne diese Verbindungspunkte hätten wir auch kein Interesse an der Kommunikation mit anderen.'

Ich dachte lange über diese Worte nach und fand viel Wahres, aber auch Falsches in ihnen. Es war tatsächlich ein beruhigendes Gefühl, wenn ich mit Tamako über den neuen Lehrer reden konnte, der uns allen irgendwie Angst machte.
Es war ebenso schön, wenn wir über einen älteren Mitschüler lästerten, der uns abermals in der Pause geärgert hatte. Insoweit stimmten die Worte meiner Mutter.

Andererseits konnte das nicht alles sein. Ich verglich meine Situation mit jener vor einem Jahr. Als ich noch nicht zur Schule gegangen war, hatte ich mich stets mit mir selbst beschäftigt. Es war eine schöne Zeit gewesen und dennoch wollte ich nicht mehr dorthin zurück. Mir würde etwas fehlen.
Dieses ‚Etwas' konnte ich lange Zeit nicht definieren, bis schließlich das Sybil System eingeführt wurde.
Ich erinnere mich noch genau, als gegen Ende meines zweiten Schuljahres der große Wechsel vollzogen wurde. Plötzlich hatte jeder von uns eine Zahl.

Als ich das erste Mal meinen Psycho-Pass nachschaute, stand da eine 8. Ich hatte diese Zahl angesehen und mir nichts dabei gedacht. Völlig neutral nahm ich es zur Kenntnis. Es hatte für mich schließlich nie zur Debatte gestanden, dass ich kriminell sein könnte. Warum denn auch?
Die 8 war in Ordnung und nichts Besonderes.
Erst Tamako änderte diesen ersten Eindruck, als er mir seine 40 zeigte.
Er erzählte mir sorgenvoll, dass seine Eltern ihn deswegen geschimpft hätten. Dass sie ihm gesagt hätten, ein Kind dürfe noch keinen so hohen Wert haben und er solle sich benehmen. Leider wussten wir beide nicht, wie genau er das tun sollte.

Nach Tamako kamen die anderen. Wir fingen an unsere Werte zu vergleichen und als ich das zweite Mal schaute, hatte ich eine 7. Ich war in unserer kleinen Gruppe der einzige, der unter einer 10 lag und plötzlich schauten sie mich alle irgendwie anders an.

Mit der Zeit veränderten sich meine Freunde. Sie lachten weniger und sie stritten weniger. Einige hatten von ihren Eltern gesagt bekommen, dass alles Auswirkungen auf den Psycho-Pass haben könnte und sie vorsichtig sein müssten.
Aber war es nicht ein Teil des Lebens zu lachen und zu streiten? Wir taten dabei doch nichts Schlimmes.
Irgendwann im dritten Schuljahr waren wir plötzlich einer weniger.
Yukina war immer ein freundliches Mädchen gewesen und ich hatte mich gern mit ihr unterhalten. Ihre lebhafte Art hatte mich an manch düsteren Tagen beflügelt. Jedoch stammte Yukina - anders als die meisten in unserer Klasse - aus einer bürgerlichen Familie. Sie hatte nie alle Spielzeuge bekommen, die sie sich wünschte und sie hatte nie in einem großen Haus in der Stadt gewohnt.
Heute weiß ich, dass sie wohl oft neidisch auf uns gewesen ist.
Unsere Klassenlehrerin verkündete uns, dass Yukina nun eine Zeit lang nicht mehr in der Schule erscheinen würde. Sie hätte am Vortag wissentlich in einem Laden etwas gestohlen. Ihre Eltern hätten entschieden, dass sie vorerst mehr auf ihre Tochter aufpassen wollten. Sie hätten wohl Angst um ihren Psycho-Pass.
Yukina kam nicht mehr in unsere Klasse zurück.

Meine kleine Welt, die früher aus weißem Schnee und fabelhaften Geschichten bestand, drehte sich bald nur noch um Zahlen.

Mit Yukinas Verschwinden veränderten sich meine anderen Freunde abermals. Sie wurden noch stiller. Sie dachten über jedes Wort nach, das sie sagten. Sie verloren ihre Impulsivität und Spontaneität und letztlich irgendwie ihre Menschlichkeit.
Es war befremdlich.
Die Angst, selbst betroffen zu sein, saß in jedem von ihnen.
- Nicht aber in mir.
Mein Psycho-Pass war zu diesem Zeitpunkt nie höher als 20 gestiegen und oftmals sank er sogar auf 0, was ich mir nie hatte erklären können und was ich auch nie jemandem erzählte. Wie lächerlich würde meine Sorge über diese Unregelmäßigkeit klingen, wenn andere sich doch um zu hohe Werte sorgten. Eine 0 war schließlich etwas Gutes, oder?

Zu jener Zeit fand ich heraus, was mich an der Theorie meiner Mutter gestört hatte. Ich brauchte Menschen nicht nur, um Ängste und Wünsche zu teilen. Ich brauchte sie ebenso, weil sie interessant waren. Sie brachten mit ihren unterschiedlichen Meinungen und ihrem völlig verschiedenen Verhalten Abwechslung in mein Leben.
Mit Sybil wurden die Menschen langweilig. Sie versuchten alle gleichermaßen unauffällig zu sein.
Obwohl ich immer noch Zeit mit meinen Freunden verbrachte, war ich einsam.

Ich begann das Thema ‚Psycho-Pass' in Gesprächen zu umgehen, wann immer es ging. Ich mochte es nicht und hegte zu jener Zeit auch das erste Mal den Verdacht, dass ich irgendwie anders war. Erst einige Jahre später begriff ich, wie richtig ich mit dieser Theorie lag und welch weitreichenden Auswirkungen das hatte.

Schneeweiße Biografien - Die Geschichte von Makishima ShogoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt