Kapitel 12

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Um die Mordserie vollkommen auf Tomas Schultern zu laden, passte ich die Leiche des Enforcers den anderen Opfern an.
Meine schneeweißen Hände wurden mit seinem Blut beschmutzt. Das war etwas völlig anderes als die Erlösung Kanas. Dieser Mann hätte das Leben gewählt, doch ich gewährte ihm den Tod.
Mit meinen eigenen Händen, die nun so viele Farben trugen.
Weiß, schwarz und rot.
Ist diese Kombination nicht gleichermaßen bizarr und schön? Liege ich richtig, wenn ich behaupte, dass Kontraste die Geburt der Farben sind?
Ich war fasziniert von der Grausamkeit und der Möglichkeit, diese Grausamkeit mit eigenen Wissen und Wollen auszuüben. Dieses Gefühl war pure, jahrelang vergessene Gewalt - die Urgewalt des Menschen. Ich hatte sie mir in genau diesem Augenblick vollkommen zu eigen gemacht.
Und obwohl ich mich nach wie vor hauptsächlich in der Rolle des Beobachters sah, war es eine überaus wertvolle Erfahrung. Ich war ein Mann im Hintergrund, der die Fäden zog, Szenarien arrangierte und die nötigen Mittel für andere beschaffte.
Um diese Rolle weiterhin zu spielen, musste ich meine Figuren verstehen. Ich musste einmal die Welt durch ihre Augen sehen und erfuhr auf diese Weise dieses beeindruckende Gefühl, das aus der Konsequenz des eigenen Handelns erwachsen ist.
Es war die Freude am Verbotenen, die Sprengung der gesellschaftlichen Grenzen. Es waren Reiz und Antrieb; Abgründe der menschlichen Seele, die sich an solchen Nichtigkeiten ergötzten und die selbst mir innewohnten.
Denn genau jene Abgründe besaß jeder Mensch. Dieses Sehnen war tief in unseren egoistischen, verdorbenen Herzen verankert und es war die Basis zur Aktivierung und Erschaffung neuer Spielfiguren.

Toma verschwand aus meinem Leben. Er wurde festgenommen und ich hörte nie wieder von ihm.
Entweder hatten sie ihn getötet oder sich eine andere Strafe für ihn ausgedacht.
Mit Sicherheit konnte ich bloß sagen, dass sie ihn nicht wieder freigelassen hatten. Seine Bewunderung mir gegenüber war bis zum Schluss prägnant gewesen und er hätte mich mit Sicherheit aufgesucht, wenn er sich auf freiem Fuß befunden hätte.
Folglich hatte Sybil auch für Menschen wie mich einen Plan.
Das war interessant.

Mit Choes Hilfe gelangte ich bald an weitere literarische Raritäten. Dieser Mann hatte Verbindungen ins Ausland, welche er mit erstaunlich wenig Aufwand zu jeder Zeit aktivieren konnte.
Einmal fragte ich ihn, warum er all das für mich tat.
Er lächelte nur und sagte mir, dass manche Antworten bloß weitere Fragen aufwerfen würden.
Diese kryptische Aussage gefiel mir. Es zeigte mir, dass mehr hinter seinem Handeln steckte, als das Offensichtliche. Choe besaß eine Seele und Wünsche, die er als schützenswert erachtete.
Das respektierte ich.

Durch ihn gelangte ich an längst verschollene Schriften von Friedrich Nietzsche, William Shakespeare, Shuuji Terayama, Arthur Conan Doyle, Jonathan Swift, Marquis de Sade, Junichirou Tanizaki und vielen anderen kritischen Autoren, deren Werke aus dem ein oder anderen Grund verboten waren. Ich nahm mir die Zeit und beschäftigte mich lange mit der Abhandlung ‚Überwachen und Strafen' von Foucault. Ich lernte über das Prinzip des Panopticons und der vollkommenen Beobachtung der Menschen. Ebenso wie ‚1984' verschaffte dieses Buch mir Einblick in die Köpfe der Menschen, die an die Regeln eines solchen Systems gebunden waren. Ich wollte die Wandlung der Menschen begreifen. Warum sie sich anpassten und was sie angesichts dieser Art der Unterdrückung fühlten.
Ich, der ich das System begriffen hatte, war klüger und gleichzeitig fehlte mir die direkte Sicht auf die Dinge. Als Außenstehender konnte ich Sybil kritisieren, doch es bedurfte eines langen Lernprozesses, um die Akzeptanz der restlichen Gesellschaft nachzuvollziehen.

Choe, der wegen des Bürgerkrieges aus Südkorea geflohen war, legte mir außerdem ein weiteres Buch ans Herz.
Es war das einzige Schriftstück, welches er mir jemals in gedruckter Form übergab. Bei besagtem Buch handelte es sich um die Bibel - Lehrbuch des christlichen Glaubens. Ich war verwundert, weil Choe mir nicht wie ein religiöser Mann erschien und die Religion in Japan kaum noch Relevanz besaß.
‚Vor Sybil glaubten die Menschen an andere Dinge. Und Glaube war etwas sehr starkes.'
Er erzählte mir von dem Bürgerkrieg in Südkorea, welcher das einst reiche Industrieland, das sich durch zukunftsweisende Technologie ausgezeichnet hatte, ins Chaos stürzte.
Die Regierung hatte einen großen Fehler gemacht. Sie hatte - unbedacht und zur reinen Formalität - den stetig wachsenden Teil der Buddhisten anerkennen wollen und diese Religion zur Staatsreligion ernannt. Diese Maßnahme war nie als Unterdrückung oder Ausschließung von anderen Religionen gedacht, sondern als schlichte Formalität.
‚Glaube ist das letzte Konstrukt, auf welches ein Mensch sich in der Verzweiflung stützt. Die Angst jene Stütze zu verlieren erzeugt eine Besessenheit, die die Menschen verändert. Friedliche Bürger demonstrierten.
Es wurde rebelliert.
Es wurden Fehler gemacht und schließlich eskalierte es.'
Choe war selbst zwischen die Fronten der großen Religionsgemeinschaften geraten und von der Küste aus nach Japan geflohen.

Etwas, woran die Menschen glauben konnten.

Dieses Konzept war in unserer Gesellschaft fast vollständig entschwunden. Was wäre wenn - rein theoretisch natürlich -die Menschen wieder glauben würden? Wenn man ihnen ganz bewusst einen höheren Sinn in ihrem Leben geben würde?
Was wäre, wenn ich dieser Sinn wäre? Die Macht und die Fähigkeit, die ureigenen Wünsche zu leben? Wenn sie auf mich angewiesen wären und von meiner Gutwilligkeit abhängig gemacht würden?
Ich war mir sicher, dass ich das konnte.
Und mir gefiel die Rolle als Gott besser als jene eines Puppenspielers.
Sybil hatte die Menschen zu Marionetten gemacht. Sie hatte alle Fäden in der Hand und ich wollte nicht wie Sybil sein.
Ein Gott war etwas Größeres. Er besaß die Macht, diese von fremder Hand gesponnen Fäden zu durchtrennen.

Wobei ich an dieser Stelle ganz besonders betonen möchte, dass ich mich nicht als ‚Gottheit' sah. Ich wollte mich mit diesem Gedanken nicht verherrlichen und ich wollte mir keinen übergeordneten Titel geben. Ich war weder verrückt, noch größenwahnsinnig.
Jedoch war, wenn ich Choes Erklärungen glauben schenkte, die Funktion eines Gottes sehr ähnlich meiner Funktion in dieser Gesellschaft. Wir waren beide gleichermaßen Antrieb, Halt und dieser gewisse Anstoß, um neue Denkweisen zu schaffen.
Das Wort ‚Gott' verwendete ich somit nur zur theoretischen Klassifizierung und keineswegs zur Selbstverherrlichung.
Der finale Schritt war es, dass ich mir geeignete Menschen suchte und mich ihnen in eben dieser Gottes-Funktion vorstellte.



Schneeweiße Biografien - Die Geschichte von Makishima ShogoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt