Kapitel 5

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Es regnete, als ich unsere schwere Haustür hinter mir zuzog. Es war ein warmer Regen an einem düsteren Tag.
Die Tasche auf meiner Schulter fühlte sich schwerer an, als ich gedacht hätte. Wahrscheinlich musste auch ich erst lernen, ein Abenteurer zu sein.

Es war nicht schwierig, eine Werkstatt zu finden, die Autos verlieh. Ich stellte mich dem älteren Herren vor, zeigte meinen blütenweißen Psycho-Pass und bekam einen Schlüssel ausgehändigt. Vorbehaltlos glaubte er mir, dass ich nur kurz eine Testfahrt um den Block machen würde. Nicht einmal einen Führerschein wollte er sehen. Schließlich war ich ja kein Verbrecher, oder?

Es war ein schöner Wagen und trotz meiner anfänglichen Schwierigkeiten bekam ich es irgendwie hin, ihn bis vor Kanas Salon zu fahren. Zum Glück war die heutige Technologie dabei sehr hilfreich.
Auch nach dem Diebstahl war mein Psycho-Pass schneeweiß.

Ich glaube ich wusste es bereits, als Kana sich außergewöhnlich lange von ihren Kindern verabschiedete.
Sie brachte sie in ihre Wohnung, die direkt über dem Geschäft lag und las ihnen etwas vor, ehe sie die beiden ins Bett schickte. Sie gab ihnen einen Kuss auf die Stirn, während sie die Decke ordentlich über sie zog und ihnen die Haare aus der Stirn strich.
Auf dem Weg nach draußen sah ich einen schlichten, weißen Briefumschlag auf ihrem Küchentisch liegen. Sie bemerkte meinen Blick, doch wir sagten beide kein Wort. Wir brauchten keine Worte, weil es Dinge gab, die man nicht aussprechen musste.

Die ersten Stunden verbrachten wir damit, ewig mit dem Wagen durch die abgelegenen Straßen der Großstadt zu fahren. Wir lachten und schimpften und verfluchten gemeinsam dieses System, das uns alle unterdrückte. Wir entwarfen die verrücktesten Pläne, um Sybil zu stürzen. Einer dämlicher als der andere, aber jeder von ihnen hoffnungsvoll und irgendwie mit einem Funken Ernsthaftigkeit versehen.
Wir achteten darauf, auf den Seitenstraßen zu bleiben, denn hier gab es keine Scanner. Es gab nur uns und die bunten Lichter der Stadt. Wenn man alles andere ausblendete, fühlte es sich fast ein wenig wie Freiheit an.
Irgendwann während diesen Stunden schob sie ihren Arm in mein Blickfeld und zeigte mir ihren Psycho-Pass. Er hatte schlussendlich den zweistelligen Bereich verlassen.

Ich muss gestehen, dass ich damals noch sehr unsicher war, was die Vorteile eines ständig reinen Psycho-Passes anging. Das einzige, was ich sicher wusste war, dass ich mich frei bewegen konnte.
Darum ließ ich Kana im Auto zurück, als ich mit nichts weiter als einem kleinen Hammer ausgestattet eine Videothek in einem Vorort aufsuchte. Mein ursprünglicher Plan war es, die Scheibe einzuschlagen, doch die Scanner registrierten meinen Psycho-Pass und öffneten mir die Türen.
Es war ein vollkommen automatisiertes System, welches nur verriegelte, wenn potentielle Kriminelle in seine Nähe kamen.
Die Menschen waren wirklich nachlässig geworden.

Tief im Keller, zwischen zig anderen archivierten und vergessenen Aufnahmen, fand ich den Film, den Kana mir genannt hatte. Es war eben jener Film, bei dem sie ihren Ex-Mann kennen gelernt hatte und der mittlerweile auf der roten Liste stand.
Sybil mochte diesen Film nicht.
Aber Kana mochte ihn.
Dieser Film war irgendwie der Anfang von ihrem Ende gewesen.

Ich hätte nicht gedacht, dass es derart mühsam wäre, einen dieser dämlichen Scanner zu zerstören. Das Gerät hing hoch oben über dem Eingang und ich war weder ein guter Kletterer, noch besonders stark. Ich beschloss, bald damit anzufangen, ein wenig zu trainieren. Sollte es irgendwann so weit sein, würden mich kein Dominator und auch keine Drone mit einem gezielten Schock ausschalten.
Gegen meinen Psycho-Pass würde nur reine, menschliche Gewalt etwas bewirken.

Kana sah mir aus sicherer Entfernung gebannt zu und als ich ihr die Beifahrertür öffnete und die Hand reichte, sah ich Skepsis in ihren Augen.
Ich wusste, was ihr auf dem Herzen lag. Natürlich fragte auch sie sich mittlerweile, warum ich solche Dinge tun konnte.
‚Es ist ok.' Ich lächelte und mein Charme wirkte.
Sie stellte keine Fragen.
Auf dem Weg zum Kinosaal musste ich noch zwei weitere Scanner untauglich machen. Dann erst konnte sie unbemerkt passieren.

Der Film war in meinen Augen nichts Besonderes. Es war ein klassisches Liebesdrama vor einem Kriegs-Hintergrund und wäre es nicht um Kanas Willen gewesen, hätte ich mir diesen Film wahrscheinlich nie angesehen.
Es bereitete mir viel mehr Freude, ihre strahlenden Augen anzuschauen, als den Blick auf die Leinwand zu richten. Das Feuer darin zog mich unweigerlich in seinen Bann.
Irgendwann, mitten während der Vorstellung, drehte Kana sich dann plötzlich zu mir um. Ein paar blonde Strähnen fielen ihr dabei ins Gesicht. Grinsend pustete sie diese bei Seite. Dann küsste sie mich.
Ich tat vieles, worum Kana mich bat, aber ich küsste sie in diesem Moment nicht zurück.
Trotzdem lächelte sie mich nach dem Kuss kurz an, ehe sie sich wieder kommentarlos der Leinwand zuwandte.
Vielleicht hatte sie gar nicht erwartet, dass ich diesen Kuss erwiderte.

Kana war weitaus geschickter im Umgang mit dem Auto als ich. Sie erzählte mir, dass sie als Jugendliche die Lizenz erworben hätte, sich danach aber nie einen eigenen Wagen leisten konnte.
So überließ ich ihr das Steuer, als wir nach unserer kleinen Privatvorführung wieder in das Auto stiegen. Sie beendete das System, das den Wagen automatisch fuhr und erklärte mir begeistert den Umgang mit einer manuellen Schaltung und Lenkung.
Dann fuhren wir mitten in die Stadt.

Die Zeit verflog geradezu, während wir durch die Innenstadt fuhren, jegliche Geschwindigkeitslimits ignorierten und an jedem leicht erreichbaren Scanner anhielten und ihn in einen Haufen Metallschrott verwandelten.
In jener Nacht war ich kein ruhiger Mensch. Ich lachte und kicherte, grölte und jubelte zusammen mit ihr. Wir amüsierten uns über die Leute vom Bureau, denen wir immer wieder vor der Nase wegfuhren und sangen laut zu der Musik, die aus dem Autoradio erklang.
Wir lebten.

Mir kam es vor, als hätten wir das stundenlang gemacht. Wahrscheinlich war diese Zeit aber viel kürzer. Das Bureau bestand aus geschulten Beamten, die uns immer dichter auf den Fersen waren.
Darum ließen wir das Auto an einer Straßenecke stehen. Ich nahm Kana an die Hand, während wir durch enge Seitengassen flüchteten und sie stammelte etwas davon, dass sie Vorkehrungen getroffen hätte. Sie versicherte immer wieder, dass ihre Kinder versorgt wären. Dass ihre Mutter sich um sie kümmern würde und dass sie sogar ein wenig Geld zurückgelegt habe. Irgendwo dazwischen hörte ich heraus, dass sie niemals wolle, dass ihre Kleinen sie eingesperrt in einem Gesundheitszentrum besuchen müssten. Dass sie nie von ihnen so gesehen werden wolle.
Ich verstand ihre Wünsche und dennoch hätte ich gerne länger mit ihr gelacht, zerstört und rebelliert.

Kana starb kurz vor Sonnenaufgang durch meine Hand. Des ewigen Davonlaufens müde geworden, setzten uns irgendwo an eine dreckige Hauswand und sie drückte mir einen kleinen Zettel in die Hand. Es war eine Telefonnummer. Sie bat mich, ihre Mutter sofort am nächsten Tag wegen der Kinder zu informieren.
Eigentlich wollte sie mich wegschicken, als sie aus ihrer Tasche ein Rasiermesser hervorzog. Es war eine der Klingen, mit welcher sie normalerweise ihrer männlichen Kundschaft eine feine Rasur zukommen ließ. Ein paar wenige Male hatte ich sie dabei beobachtet und sie war stets konzentriert gewesen, damit sie keinen falschen Schnitt setzte. Nun jedoch zitterte ihre Hand.

Sie lächelte, als ich ihr die kühle Klinge an den Hals setzte.

Ich hätte nie gedacht, dass ein reiner Psycho-Pass so viele Möglichkeiten eröffnen könnte. Als ich nur zwei Straßen weiter einem Officer in die Arme lief, bekam ich keinerlei Probleme. Sybil teilte ihm mit, dass ich völlig ungefährlich sei.
Selbst das Blut an meiner Hand ließ ihn daran nicht zweifeln. Er hetzte weiter, ohne mich eines zweiten Blickes zu würdigen.

Schneeweiße Biografien - Die Geschichte von Makishima ShogoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt