Kapitel 10

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Danach geschah alles sehr schnell.
Während mein gesamtes Leben eher ein träges Dahinplätschern gewesen war, so trat der Fluss nun über seine Ufer.
Plötzlich stand Toma mit blutverschmierten Händen vor mir und zeigte mir eine weitere Leiche, die er im Keller der Schule lagerte. Es handelte sich dabei um einen Mittäter von jenen, die ihm angeblich Princess entrissen hatte. Die Details hörte ich mir nicht an. Ich erfuhr nur, dass es irgendeine hochrangige Persönlichkeit gewesen war.
Der Anblick der Leiche erschreckte mich nicht. Sie hatte vielmehr etwas Faszinierendes an sich. Sie wirkte friedvoll und ruhig.
Sollte Toma doch tun, was er für richtig hielt. So lange er seinen Plan umsetzte und diese Leichen in die Öffentlichkeit brachte, war es mir recht. Sollte ich Mitleid mit seinem Opfer empfinden? Für diesen Toten, der als Mann von Namen und Stand aller Voraussicht nach eine völlig wertlose, willenlose Marionette Sybils gewesen war? Dessen Existenz sowieso kaum einem menschlichen Dasein entsprochen hatte?
Mein Mitleid gegenüber den Menschen schwand in dieser Zeit sehr schnell.
Und auch meine Zweifel am Wert der menschlichen Seele wuchsen stetig.

Mein Training mit Senguji begann Früchte zu tragen. Ich wurde nicht muskulöser, aber ich gewann Tag für Tag an Stärke und der alte Mann bestätigte mir, dass meine Reflexe und meine Treffsicherheit ausgezeichnet wären.

Auch Choe traf ich bald wieder.
Bereits am nächsten Wochenende nahm ich mir die Zeit ihn aufzusuchen.
Choe war ein Mensch, der bewusst mit mir Kontakt aufgenommen hatte. Das war ich nicht gewohnt, weil es meist anders herum war. Außerdem war er ein guter Gesprächspartner. Ebenfalls belesen, wenngleich oftmals in völlig anderer Lektüre.
Sein Psycho-Pass war immens hoch, weswegen er sich sehr bewusst in der Stadt bewegen musste. Sollte er jemals in einen Scanner laufen, so würde man ihn sofort festnehmen und in eine Fakultät stecken.
Bisher hatte er das aber sehr gut gemeistert und er schien sich diesbezüglich auch keine Sorgen zu machen. Er lachte, als ich ihn deswegen befragte.

Somit hatte ich zu jener Zeit drei Menschen um mich, deren Psycho-Pässe aus der Menge stachen.
Da gab es Toma, dessen Wert ebenso fehlerhaft war wie meiner. Ein Mann mit schier unendlichen Möglichkeiten, der mir aber wegen seiner Schizophrenie ein unliebsamer Zeitgenosse war.
Dann war da Senguji, der durch seine Hobbyjagd einen hohen Psycho-Pass hatte. Er entging den Scans, weil er für diese Gesellschaft eine wichtige Persönlichkeit darstellte. Mit ihm konnte ich über praktische Dinge sprechen, doch sein Intellekt war begrenzt und sein Handeln beschränkt auf die Stillung seines Blutdurstes.
Und schließlich gab es Choe, der ebenfalls einen erschreckend hohen Psycho-Pass besaß. Ein gebildeter Mann, der sich bewusst gegen das Gesetz stelle und in dieser Form lediglich leben konnte, weil er wie ein Schatten durch diese Stadt huschte.

Nach langer Zeit der Langeweile fühlte ich mich in ihrer Gesellschaft mit etwas wundervollem konfrontiert:
Es waren die vielen verschiedenen Seiten dieser Personen. Ihre Schwächen und ihre wahren Wünsche. Jeder von ihnen stellte ein kleines bisschen Menschlichkeit dar.
Ich beschloss, dass ich mich nicht länger mit Puppen umgeben würde. Ich wollte mehr Leute wie Choe finden, die für mich wahre Freunde sein könnten. Ich wollte beobachten, wie Sengujis tote Augen flackerten, wenn er sich bei seiner Menschenjagd der Grausamkeit bediente.
Und ich wollte Toma nutzen, um eben diese ureigene Grausamkeit - die Basis des ‚Jägers Mensch' - wieder in das Bewusstsein aller zu locken.
Menschen besaßen Wünsche. Sie litten unter Sehnsüchten und sie verlangten tief in ihren Herzen nach verwerflichen Dingen.
Erst wenn man ihnen diese verwerflichen Dinge erlaubte, konnte man ihre wahre Seele erblicken. Man musste ihnen die Möglichkeit geben, ihre Ketten zu lösen. Für mich war es ein Einfaches, die Mittel zu beschaffen. Ich war frei.
Und ich würde sie befreien.
Es würde bald viele Chloes, Tomas und Sengujis geben.
Sehr viele.
Sybil musste in die Schranken gewiesen werden.
Denn die Menschheit war tot.
Und ich war zu lange einsam gewesen.

Schneeweiße Biografien - Die Geschichte von Makishima ShogoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt