Kapitel 3

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Mit den Jahren beruhigte sich die Gesellschaft wieder. Sybil war nun ein Teil unseres Lebens geworden. Während die Menschen in den ersten Jahren unsicher waren und manchmal ihre Werte noch hinterfragten, so verstummten diese Stimmen jetzt. Die Menschen hatten aufgehört sich darüber aufzuregen und sie fügten sich Stück für Stück in das System.
In meinen Augen hatten sie aufgegeben.

Ich war froh, dass meine Eltern nie sonderlich viel über das Sybil System redeten. So hatte ich wenigstens zu Hause Ruhe vor diesem lästigen Thema.
In ihrem Falle war das weder Ablehnung oder Desinteresse. Der Grund dafür war mein Vater. Sein Psycho-Pass befand sich stets in beunruhigenden Höhen, weswegen er dieses Thema um jeden Preis mied. All das, was zu seiner Arbeit gehörte und was er mir als Kind bereits erklärt hatte, zeigte nun seine Auswirkungen.
Aus Furcht, dass er doch irgendwann einmal die 100 überschreiten könnte, stellte er seine Auslandseinsätze ein. Er vergrößerte sein Heimbüro und verbrachte viel Zeit im Haus.
Er erklärte mir, dass besonders an den Grenzen und an den Flughäfen streng kontrolliert wurde.
Er hatte Angst.
Und auch er hatte aufgegeben.

Es gab jedoch jemanden, der nicht aufgab.
An einem sonnigen Nachmittag, den andere Familien in einem der vielen Parks oder freudig bummelnd in der Fußgängerzone verbrachten, war ich bei meiner Tante. Ich war damals 15 Jahre alt und verstand die Dinge in unserer Welt immer besser. Ich las mit Begeisterung und distanzierte mich von meinen Klassenkameraden. Sie waren langweilig geworden, während die Menschen in meinen Geschichten aufregend und mutig waren.
Oft träumte ich davon, dass es zu unserer Zeit auch noch solche Menschen gab. Manches Mal erwischte ich mich dabei, wie ich stundenlang auf die Straßen schaute und nach einem solchen Menschen Ausschau hielt. Es wäre eine schöne Abwechslung, wenn endlich mal jemand auftauchen würde, der nicht Teil dieses stoischen Systems war.
Manche Tage hatte ich Hoffnung und an anderen Tagen gab ich fast auf. Die Menschen, die sich nicht dem System beugten, würde ich nur in den Gesundheitszentren finden. Letztlich war Sybil das Gesetz geworden und das Gesetz war ‚gut'. Wer an Sybil zweifelte, zweifelte am Gesetz und am Guten. Wer nicht an das Gute glaubte, war böse.
So einfach war das.
Aber wer hatte denn bitte festgelegt, das Sybil gut war? Wie konnte etwas gut sein, vor dem sich so viele Menschen fürchteten?

Ich war mir sicher, dass meine Theorien stimmten und dennoch gab es eine große Unbekannte bei diesem Gedanken: Was war ich?
Auch ich zweifelte an diesem System. Ich lernte es zu hassen und ich überlegte manchmal - ganz theoretisch natürlich - wie man es zerstören könnte. Es waren Träumereien, die anderen Menschen den Psycho-Pass in die Höhe trieben. Nicht aber meinen.
Manchmal war ich eine 23, manchmal eine 12 und manchmal eine 0. Diese Zahl schien so unpassend und stand in keinerlei Verhältnis zu meinem Denken und Handeln.

Das Buchsortiment meiner Tante war mittlerweile nicht einmal mehr halb so umfangreich, wie zu meiner Kindheit.
Ich hatte sie gefragt, warum sie keine gesellschaftlichen und historischen Romane mehr verkaufe und sie hat dabei so furchtbar traurig gewirkt.
‚Es gibt Bücher, die anerkannt sind und es gibt welche, die Sybil nicht als wertvolle Lektüre erachtet.'
Sie bat mich darum es dabei zu belassen, doch ich war stets neugierig gewesen und fragte weiter. Lange zögerte sie, doch dann kochte sie uns in dem kleinen Hinterzimmer einen Tee und erzählte mir von Kulturen, in denen es noch Veto-Rechte und Bürgerinitiativen gab. Sie berichtete vom alten London, in dem die Bevölkerung abstimmen durfte, ob ein Verbrecher gerichtet, verbannt oder freigesprochen wurde.
Während sie sprach schaute sie ständig auf den Boden ihrer Teetasse. Sie wirkte so furchtbar nervös und am Ende zeigte sie mir ihren Psycho-Pass.
Dieses Gespräch hatte sie um glatte 10 Punkte in die Höhe schießen lassen. So viele Punkte zählte meiner zu diesem Zeitpunkt nicht einmal in der Summe.
‚Wenn ich darüber nachdenke wird es schlimmer, aber wenn ich darüber rede, dann passiert das, was du gerade gesehen hast.'
Ich begriff, was sie mir damit sagen wollte und ich nahm ihre Hand, in der Hoffnung ihr etwas Trost zu spenden.
Ich weiß nicht, ob es etwas gebracht hat.

An diesem Tag erzählte ich das erste Mal jemandem von meinem völlig andersartigen Psycho-Pass.

Es war schön mit meiner Tante ein Geheimnis zu haben. Obwohl ich immer ein enges Verhältnis zu meiner Mutter pflegte, war sie plötzlich nicht mehr der wichtigste Mensch in meinem Leben.
Meine Tante und ich waren so unterschiedlich und doch trugen wir die gleiche Unruhe in uns. Wir mochten dieses System nicht und ich musste an mich halten, als eines Tages uniformierte Männer mit kühlen Blicken in unserem Laden standen und eine Liste mit Buchtiteln auf den Tresen legten. Sie baten um die Aushändigung der ‚unerwünschten Lektüre' und wiesen ebenso darauf hin, dass eben diese Exemplare auch in Zukunft nicht mehr verkauft werden dürften.
Meine Tante war den Tränen nahe und ihre Hände zitterten, als sie anfing die Bücher aus den Regalen zu ziehen. Ich kannte einige der Stücke und wusste, dass sie ihr sehr am Herzen lagen.
Obwohl ich stets ein ruhiger und besonnener Mensch war, so wurde ich das erste Mal wütend und tat das, was eben meine Tante nicht konnte. Ich sagte meine Meinung und ich sagte diesen Männern ins Gesicht, dass ich genau wusste, warum das System eben jene Bücher nicht mehr tolerierte.
In jenem unbedachten Moment sprach ich zum ersten Mal aus, was ich vom Sybil System und dem Psycho-Pass dachte. Ich hielt weder meine Verachtung für die momentane Gesetzlage, noch meine Ablehnung gegenüber der langweiligen, eingefahrenen Gesellschaft zurück.

Die Männer zogen schnell ihre Schlüsse. Sie überwältigten mich und richteten einen Dominator auf mich. Die Verwirrung war ihnen ins Gesicht geschrieben, als mein Wert jenseits der von ihnen vermuteten Grenze lag.
Einen Moment lang waren sie noch unschlüssig, doch dann ließen sie mich los und entschuldigten sich.
Sybil hatte ihnen gesagt, dass ich keine Bedrohung war und sie glaubten es vorbehaltlos. Sie hatten ihr eigenes Denken ausgeschaltet und waren Marionetten von einem Programm geworden. Erbärmlich und verachtenswert.
Heute bin ich mir nicht mehr sicher, aber ich glaube, dass nach diesem Erlebnis stetig in mir der Wunsch wuchs, die Menschheit für diese Dummheit zu bestrafen.

Schneeweiße Biografien - Die Geschichte von Makishima ShogoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt