Kapitel 7

172 21 0
                                    

Die Oso Privatschule lag auf einem seichten Hügel, umgeben von grünen Wäldern und einem kleinen Bachlauf, der sich direkt neben der Cafeteria entlang schlängelte. Es war ein ruhiger, malerischer Ort, wie man ihn nur noch aus Erzählungen kannte.
Das Schulgebäude war ein altes, herrschaftliches Haus. Es gefiel mir, dass hier keine Hologramme genutzt wurden. Die Wände wären tatsächlich aus altem Bruchstein geschichtet und wirkten stabil und sicher.
Ich mochte diesen Ort, obwohl mir die vielen jungen Mädchen nicht sympathisch waren. Schlimmer sogar: Nach nur wenigen Tagen begann ich sie zu verachten.
Sie waren naiv und weltfremd. Abgeschirmt von jeglichen negativen Einflüssen verkümmerten ihre Charaktere.
Oftmals wünschte ich mir, dass jemand sie mit ernsthaften Problemen konfrontieren würde. Ich wollte sie spürten lassen, dass die größten Sorgen des Lebens keine schlechten Noten waren. Ich wünschte mir Verzweiflung, Panik und Hilflosigkeit in ihre Augen zu sehen.
All diese Gefühle waren ihnen fremd und ich war mir sicher, dass es ihnen nicht schaden würde, sie zu erfahren.

Und obwohl ich für meine Schüler nur Verachtung übrig hatte, gab es dort dennoch Personen, die mich interessierten.
Zum einen war da Toyohisa Senguji. Er war ein Förderer der Schule und sein starrer, toter Blick irritierte mich im ersten Moment. Senguji war ein 90%-iger Cyborg. Es war offensichtlich, dass er durch diese vollkommene Umwandlung versuchte der Unsterblichkeit näher zu kommen. Bald fragte ich mich, welchen Grund er dafür haben mochte.
Was sah er in dieser Welt, dass er für immer in ihr verweilen wollte?
Oder hatte er schlichtweg Angst vor dem Tod?
Ich für meinen Teil fürchtete mich nicht vor dem Tod. Das Leben war eine interessante Erfahrung. Nicht mehr und nicht weniger. Es war bloß eine unbekannte Zeitspanne, in welcher ich diese Welt und ihre Begebenheiten erkunden konnte.
Für immer weiterleben? Obwohl ich sehr an meinem Leben hing, erschien mir dieser Gedanke fürchterlich.

Die zweite Person, die eine wichtige Rolle spielen sollte, war Kozaburo Toma. Er war ebenfalls Lehrer und unterrichtete Sozialkunde.
Die ersten Monate fiel er mir überhaupt nicht auf. Er war ein unscheinbarer junger Mann. Sehr durchschnittlich und ruhig.
Während der Unterrichtswechsel liefen wir uns hin und wieder in einem der langen Gänge über den Weg. Wir grüßten uns und wechselten ein paar höfliche Worte, ehe wir im nächsten Klassenzimmer verschwanden.
Nicht mehr und nicht weniger.
Und während ich mir über alle Menschen an dieser Schule eine Meinung bildete, blieb Kozaburo Toma ein unbeschriebenes Blatt.
Eigentlich hätte mir allein dieser Fakt bereits ein Hinweis sein müssen.
- Auf den wahren Menschen hinter der unscheinbaren Fassade und letztlich auch auf die tatsächliche Beschaffenheit des Sybil Systems.
Zu diesem Zeitpunkt hätte ich aber niemals so weit gedacht.

Genauso wie die Schülerinnen mussten sich auch die Lehrkörper zu den wöchentlichen Check-ups melden. Für mich war das nie ein Problem gewesen, weil ich meinem Psycho-Pass mittlerweile vollkommen vertraute. Es stand außer Frage, dass er jemals in gefährliche Bereiche steigen würde. Der Schwankungsbereich meines Psycho-Passes war größer als zu Zeiten meiner Kindheit, aber in keinerlei Weise besorgniserregend.
Es gab jedoch eine spezielle Sache, die bezüglich des Psycho-Passes an diesem Ort anders gehandhabt wurde:
Während die Scanner in der Öffentlichkeit lediglich Momentaufnahmen erstellten, so hielt hier ein Psychologe die ermittelten Werte in eine Personalakte fest.
Das war etwas Neues für mich, der ich doch innerhalb weniger Sekunden einen völlig anderen Wert haben konnte.
Es wäre aufgefallen, wenn ich innerhalb einer Woche von einer 50 auf eine 0 gesunken wäre oder anders herum.

Zum Glück hatte ich dieses Problem bereits gelöst, ehe es mich betraf.
Während den langweiligen Monaten nach Kanas Tod hatte ich einige Selbstexperimente vorgenommen und herausgefunden, dass ich meinen Psycho-Pass durch reine Willenskraft in die eine oder andere Richtung manipulieren konnte. Das war eine wichtige Lektion, die es mir nach weiterem Üben ermöglichte, meine Unregelmäßigkeiten auch an der Schule geheim zu halten.
Ich entschied mich schnell für eine 20, die ich als schöne Zahl erachtete. Mit genau diesem Wert ließ ich mich wöchentlich scannen und niemand stellte Fragen.
Es war der optimale Wert eines Lehrers, der Vorzeigeschülerinnen an einem beispiellos perfekten Internat unterrichtete.

Bei Toma sah das anders aus.
Auch er war noch ein junger Lehrer. Ich erfuhr aus den Gesprächen meiner Kollegen, dass er nur wenige Wochen vor mir hier angefangen hatte.
Während die Lehrkräfte in Anwesenheit der Schülerinnen stets jedes Wort auf die Goldwaage legten, so flüsterten sie umso mehr in den sicheren vier Wänden des Lehrerzimmers. Das wunderte mich nicht. Nirgends sonst in diesem Gebäude durfte man frei sprechen. Schließlich galt es als oberste Priorität, die Schülerinnen stets vor schlechten Einflüssen fernzuhalten.
Zum Schutz der jungen Mädchen durften meine Kollegen nur in diesem einen Raum, hinter sicher verschlossenen Türen, zweifelhafte Themen laut aussprechen.
Eines jener Themen war Tomas Psycho-Pass.

Mein Interesse für diesen Mann wurde schlagartig geweckt, als ich die Geschichten über seine schwankenden, aber stets niedrigen Werte hörte.
Die anderen Lehrkräfte konnten sich - im Gegensatz zu mir - keinen Reim darauf machen.

Es war mir ein Leichtes, noch in der gleichen Nacht ins Schularchiv einzubrechen, Tomas Akte durchzulesen und mir einen Überblick über die Werte seines Psycho-Passes zu verschaffen.
Dieser Mann war genau wie ich.
Er war der Beweis, dass es einen weiteren Fehler im System gab und ich vermutete, dass er sich dessen zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst war.

Schneeweiße Biografien - Die Geschichte von Makishima ShogoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt