Kapitel 13

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Viel zu selten war unser Aufeinandertreffen.
Viel zu kurz berührten sich unsere Welten.
Wenn ich nun zurückblicke und ehrlich zu mir bin, schaue ich auf ein langweiliges, fades Leben. Die Zeit war für mich - ähnlich wie das Wassers in einem kleinen Bach - bloß dahingeplätschert. Ziellos und ohne eine besondere Richtung. Es war nichts weiter als eine Ansammlung von Eindrücken gewesen und ich hatte mein Glück stets von anderen abhängig gemacht.
Nun jedoch verwandelte sich dieses Rinnsal in einen schnellen Strom. In einen reißenden Fluss, dessen Ufer übertraten und sogar mich mitrissen. Und das, obwohl ich stets auf einem sicheren Felsen gestanden hatte.
Ich mochte das Gefühl der Flut. Dieses Spiel zwischen uns, das seinesgleichen suchte. Wir waren zwei ebenbürtige Gegner, die sich keine Zugeständnisse machen würden.

Zu jener Zeit begann es auch, dass ich erstmalig von dir träumte.
Das schockierte mich zu Beginn, weil ich seit jeher einen unruhigen Schlaf besessen hatte. Manche Nächte hielt es mich nur wenige Stunden im Bett. Das war nichts Besonderes.
Meine Träume waren jedoch etwas Besonderes.
Geträumt hatte ich bis zu jenem Zeitpunkt nämlich noch nie.

In meinen Träumen gab es nur uns beide und du warst sehr ruhig. Dein Verhalten war so anders als das des Kogamis, der mir tagtäglich nachjagte. Ich liebte diesen ruhigen Kogami genauso wie dein wahres Ich.
Irgendwann begriff ich, dass ihr tatsächlich eine einzige Person wart.
Dieser stille, nachdenkliche Kogami ist ein Teil von dir und er gehört all jenen Menschen, die nicht deinen Hass auf sich gezogen haben. Das war durchaus schade, doch mein Verdruss darüber legte sich bald. All diese Menschen mussten sich diese Seite von dir teilen, während dein Hass nur mir allein galt.
Das war in Ordnung.

Wie du sicherlich siehst, sind meine Aufzeichnungen an dieser Stelle nicht mehr sehr umfangreich.
So vieles beschäftigte mich, doch es fehlte die Zeit, um all diese Dinge in Worte zu fassen. Es stand eine große Wende in meinem Leben bevor.
Du warst zur richtigen Zeit auf der Bildfläche erschienen, denn du würdest nun Augenzeuge meines einen, großen Planes werden.
Entweder würde ich dabei das Sybil System tatsächlich vernichten oder du würdest mich zur Strecke bringen. Beide Varianten wurden Tag für Tag wahrscheinlicher und ich war mir lange nicht über den Ausgang unseres Spieles sicher.

Es tat weh, dass du mir meist so fern warst. Deswegen opferte ich Senguji bereitwillig, um dir wenigstens für eine kurze Zeitspanne bei deinem Überlebenskampf zuzuschauen. Es war der Preis, damit ich für eine Weile den echten Kogami sehen durfte.

Zusammen mit Choe brachte ich danach die Helme in Umlauf, die wir in den letzten Monaten in mühsamer Kleinarbeit und mit Hilfe vieler Selbstversuche entwickelt hatten.
Chaos brach aus und die Gesellschaft reagierte genauso, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Das war gleichermaßen beruhigend, wie es auch traurig war.

Ich wusste, dass ich dich nicht lange hinters Licht führen konnte. Du würdest auf die eine oder andere Art deinen Weg zu mir finden. Deswegen entschied ich an jenem Tag, dass Choe in den Keller gehen sollte, während ich selbst die Spitze des Ministeriums bestieg.
Zweifelsohne war meine Obsession nicht einseitig. Denn auch du warst nicht in der Lage dazu, dich meinem Bann zu entziehen und deswegen wusste ich, dass du mir folgen würdest. Und obwohl ich Sybil gerne mit eigenen Augen gesehen hätte, ermöglichte diese Konstellation die höchste Erfolgsrate.
Choe würde in Ruhe dieses verhasste System zerstören und ich würde dir endlich Auge in Auge gegenüberstehen.
Ich freute mich.

Der Ausgang dieses ersten Treffens war eine Versinnbildlichung unserer Wesen.
Ich war defensiv und du warst offensiv. Wären es nur wir beide gewesen, hätte meine kühle Berechnung dein Temperament bezwungen. Du besaßt jedoch etwas, was ich niemals mein Eigen nennen konnte: Du warst umgeben von anderen Menschen, die vollkommen hinter dir standen. Das war bis dato eine Variable gewesen, die sich meines Verständnisses entzog.
Es ist bitter das so zu sagen, aber ich verlor bei dieser Gegenüberstellung.
Doch damit kann ich leben.
Viel mehr bereute ich, dass wir an jenem Tag nicht länger miteinander reden konnten. Ich hätte so gerne für immer deiner Stimme gelauscht. Weißt du, dass ich all deine Worte, nicht mit Gold aufwiegen könnte?
Auch dein Mund, dein energiegeladener Körper, deine glänzenden Augen. Du warst so andersartig, dass mir alleine dein Anblick eine erneute Gänsehaut bescherte. Mit Freude saugte ich in jenen Minuten deine kalten Blicke in mich auf, denn auch sie gehörten ganz allein mir.
Du machtest mich lebendig. Ich, der die Schreibfeder nicht an Sybil abgegeben hatte, fand endlich einen Leser meiner Biografie.
Ich fand meinen Andersdenker.
Wir waren gleich und verschieden.
Denn wir waren beide die rebellischen Hauptakteure einer Geschichte.
Und wir waren beide der Leser, der sich mit der jeweils anderen Geschichte befasste.
Mit diesen Worten möchte ich unser Verhältnis zueinander hier festhalten.
Wahrscheinlich ist diese Formulierung immer noch sehr ungenau und manche Leute müssen wohl zwei- oder dreimal über deren Bedeutung nachdenken. Anderen wird das Gewicht dieser Erkenntnisse niemals verständlich werden.
Doch ich bin mir sicher, dass du es begriffen hast, Kogami.

Ich war seit jeher ein realistischer Mensch.
Somit wünschte ich mir zwar insgeheim, dass du dir dieser Verbindung zwischen uns beiden eingestehen würdest, doch ich wollte es niemals von dir verlangen.

Weil meine Zeit mittlerweile knapp wird, kann ich nicht mehr alles aufschreiben, was mir in den Sinn kommt. Das ist unglaublich schade, denn gerade jetzt erfahre ich so viele neue Dinge. Ich lerne viel über die Menschen und ich glaube meine Wertschätzung ihnen gegenüber steigt wieder.
Auch daran bist du irgendwie schuld.
Mein Weg ist nun unabänderlich geworden. Ich werde das Chaos weiterführen. Weder mein Wiedersehen mit Toma, noch mein neues Wissen über Sybil haben daran etwas geändert. Ich werde jetzt zum nächsten großen Schritt übergehen. Ich vermute, dass du bereits herausgefunden hast, dass ich es auf die Lebensmittelindustrie abgesehen habe.
Dieser alte Mann wird sich leicht Honig um den Mund schmieren lassen. Pensionäre sind immer etwas eigen, weißt du? Sie klammern sich an ihre frühere Anerkennung und freuen sich, wenn jemand ihre Arbeit auch nach ihrem Ausscheiden noch zu schätzen weiß.

~*~

Mittlerweile hast du dich wohl von deinen Ketten losgerissen.
Das war eine gute Entscheidung.
Deshalb bist du immer nur einen ganz kleinen Schritt hinter mir.
Das macht es spannend.
Und gleichzeitig läutet es den Schlussakkord ein.
Unsere beiden Geschichten werden bald ihren Höhepunkt erreichen. Einleitung, Höhepunkt und Schluss. So sind die Regeln eines guten Buches. Auch wir werden uns aller Voraussicht nach diesen Grundregeln unterwerfen müssen.

Ich weiß nicht, ob dir meine Geschichte zusagt, aber ich werde diese Aufzeichnungen in wenigen Stunden dem Bureau zuschicken. Ich bin mir sicher, dass sie Mittel und Wege finden, um es dir zukommen zu lassen. Deine Kollegen stehen nach wie vor hinter dir - obwohl du dich nun jenseits von Sybils akzeptablem Weltbild befindest.
Du bist beneidenswert.

Diese Biografie schicke ich dir nicht, weil ich deine Verständnis oder deine Vergebung erbitten möchte.
Ich will lediglich, dass du meine Geschichte zur Kenntnis nimmst.
Ich wünsche mir, dass ich für dich immer etwas Einzigartiges bleibe. Bitte ersetze mich nicht. Tausche mich in dieser schnellen, trostlosen Gesellschaft nicht durch einen anderen Widersacher aus. Lass deinen Hass für immer bei mir.
Ich mache mich jetzt auf den Weg.

~*~

Hiermit setze ich das letzte Mal meine Feder auf diese Seiten.
Leider wird somit ein Teil meiner Geschichte fehlen, doch das muss ich in Kauf nehmen.
Ist es nicht so, dass ein offenes Ende viel interessanter als ein abgeschlossenes ist? Es lässt Raum für Spekulationen, Analysen und Gedankenspiele.
Vielleicht ist es wirklich besser so.

Ich habe nun alles beisammen, was ich für den Einbruch in das Institut benötige.
Der alte Mann ist tot.
Kennst du auch dieses Gefühl? Wenn es plötzlich leichter wird, Menschen zu töten?

Ich weiß nicht, wo du dich gerade befindest, aber ich werde nun zu diesem vorsintflutlichen Forschungsinstitut aufbrechen. Bald wird dafür gesorgt sein, dass die Menschen dieses Landes wieder lernen, was Hunger bedeutet.
Danach werde ich beobachten, wie sie notgedrungen die Grenzen öffnen.
Ich werde in der ersten Reihe sitzen und lachen, wenn zusammen mit den importierten Lebensmitteln die illegalen Einwanderer ins Land kommen.
Das Sybil System wird wegen der schieren Masse an Menschen vollkommen überfordert sein. Das ist eine schöne Vorstellung, oder?

Wirst du mich das noch sehen lassen? Oder wirst du mich vorher finden?
Leider kann ich darüber keine genaue Prognose anstellen.
Aber es gibt etwas anderes, was ich - unabhängig des Zeitpunktes - mit Sicherheit sagen kann:
Ich wünsche mir aus ganzem Herzen, dass du derjenige bist, der mein Leben beendet. Niemand anderem möchte ich diese Aufgabe überlassen.
Denn du hast mich lebendig gemacht. Du warst das erste und einzige Publikum meiner Geschichte. Du hast sie analysiert und schließlich kritisiert. Durch dich entstand der erste Knick im Einband und du warst es, der kleine Knoten in das Lesebändchen machte.
Durch dich bekam ich endlich das Gefühl, wirklich existiert zu haben.
Und im Austausch dafür bin ich bereit dir alles zu geben.
Alles.
Ich bereue nichts.


Makishima Shogo



Die Schöpferkraft eines Autors folgt leider nicht immer seinem Willen; das Werk gerät, wie es kann, und stellt sich dem Verfasser oft wie unabhängig, ja wie fremd, gegenüber.
Sigmund Freud (1856 - 1939), eigentlich Sigismund Schlomo Freud, österreichischer Psychiater und Begründer der Psychoanalyse


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