Rae McQueen
Ich hatte Jagger seit einer Woche nicht mehr gesehen. Vor sieben Tagen saßen wir gemeinsam auf dem Boden dieses Zimmers. Heute war ich alleine hier. So mochte ich es ohnehin lieber. Mit den Beats auf meinem Kopf und dem Pinsel in meiner Hand stand ich vor der Leinwand. Ich tunkte in die blütenweiße Farbe, um das Kleid des Mädchens zu vervollständigen. Es stand in der Mitte einer prachtvollen Blumenwiese.
Als mein Wecker klingelte, räumte ich alles zurück und verließ das Atelier. Nastia hatte keine Lust auf ihren homophoben Professor, weshalb sie sich heute morgen gar nicht erst die Mühe machte, aus dem Bett zu steigen. Töpfern hatte ich demnach ohne sie. Nachdem Mrs. Dougherty mich und Jagger letzte Woche zusammen erwischt hatte, fühlte ich mich tierisch unwohl in ihrem Kurs, aber es half nichts. Außerdem machte das Töpfern unheimlich Spaß.
"Guten Tag zusammen. Heute werden wir mit den Scheiben arbeiten", verkündete sie. "Den Ton habe ich Ihnen bereits hingelegt. Sie müssen diesen kneten und in eine grundlegende Form bringen, bevor sie anfangen mit der Scheibe zu hantieren. Des Weiteres müssen Sie ihre Schüsseln mit Wasser befüllen. Das Ziel ist eine Schale. Hier vorne sehen sie einige Exemplare, an denen Sie sich orientieren können. Viel Spaß!" Mit großer Begeisterung befolgte ich die Anweisungen. Schon lange hatte ich mich darauf gefreut, mit der Scheibe töpfern zu können.
Ich war bereits dabei, den Ton mit den Händen zu formen, als jemand das Zimmer betrat. Zunächst ließ ich mich nicht stören. Erst als ich die Stimme hörte, blickte ich auf. Es war Jagger. Er wollte... töpfern. "Gut. Suchen Sie sich eine freie Scheibe. Ich werde Ihnen Ton besorgen", tat Mrs. Dougherty ihm kund. Der Erwartung entsprechend, wählte er die unbesetzte Scheibe an meinem Tisch.
"Was willst du hier?", fragte ich leicht bissig. "Töpfern." Er streifte sich die schwarze Sweatjacke von den Armen. Mein Blick fiel auf seine Hände. Sie sahen anders aus. Kein umgekehrtes Kreuz und keine Pfeile mehr. Da war ein Adler. "Ist es besser so?" Seine Stimme war nur etwas lauter als ein Wispern. Mit einem entgeisterten Ausdruck sah ich in sein Gesicht.
"Hier, Mr. Trevino." Die Dozentin legte ein Stück Ton auf seinen Arbeitsplatz. "Wenn Sie Fragen haben, können Sie sich auch an Mrs. McQueen wenden." Das sagte sie mit voller Absicht. Ihr unterdrücktes Grinsen verriet es.
Seufzend konzentrierte ich mich wieder auf meine Schale, die noch nicht annähernd nach einer Schale aussah.Aus dem Blickwinkel erkannte ich, wie Jagger immer wieder scheiterte. "Du musst mehr Wasser nehmen", erklärte ich ihm gereizt. Er tunkte die Finger in die Schüssel und versuchte es noch einmal. "Mehr Wasser." Es funktionierte nicht.
Mit einem Ächzen ging ich um den Tisch herum. Ich tauchte meine ganze Hand in den Behälter und begann seinen Ton zu bändigen. Als dieser eine einigermaßen zumutbare Form angenommen hatte, ließ ich ihn weitermachen. Er befeuchtete seine Hände und legte sie um den Klumpen. Darin war er fürchterlich schlecht. Die Masse nahm einen schiefen Verlauf."Du musst gleichmäßig Druck ausüben", merkte ich an, doch das half ihm nicht. Jagger war absolut talentfrei, wenn es um Töpferei ging. Ich stieß einen angestrengten Atem hervor, dann platzierte ich meine Hände auf den seinen. Eine sanfte Berührung. "So." Ich zeigte ihm, wie viel Druck in Ordnung war und wie er den Ton in eine ebene Form brachte. Unsere Finger klebten aneinander.
Ich spürte ein Ziehen in der Magengegend. Es war nicht wie das Ziehen, das ich gewohnt war. Um ehrlich zu sein, bereitete mir genau das Unbehagen. Nervös löste ich mich von ihm und trat weg. Seine Nähe hätte sich nicht so anfühlen sollen. Es hätte sich kalt anfühlen müssen. Ich hätte Gänsehaut bekommen sollen, aber stattdessen stieg meine Temperatur ins Unermessliche. In meinem Bauch sammelte sich Wärme, die in einer Welle durch meinen gesamten Körper strömte. Das Herz schlug mir bis zum Hals.
Mit weichen Knien setzte ich mich zurück auf meinen Hocker. Die zitternden Finger legte ich wieder an den kreisenden Ton. Die Dozentin musterte mein Werk. "Sehr gut, Mrs. McQueen", lobte sie. "Sie können anfangen, die Seiten hochzuziehen." Vorsichtig ließ ich die Finger nach außen gleiten, so wie sie es mir gesagt hatte. Ohne Probleme erschuf ich den Rand der Schale.
Jagger kämpfte nach wie vor damit, die Basis zu bilden, ich weigerte mich jedoch, ihm zu helfen. Ich widersetzte mich, ihm näher zu kommen.Meine Aufmerksamkeit galt dem prächtigen Vogel auf seinem Handrücken. Nachdenklich betrachtete ich das Tattoo. Es war so groß, dass die beiden Symbole, die sich ursprünglich an dieser Stelle befanden, nicht mehr festzustellen waren. Nicht einmal mehr das umgedrehte Kreuz - das Kennzeichen der Sinners - war ersichtlich. Die Flügel des Adlers waren geweitet. Sie reichten von dem äußersten Mittelhandknochen bis zu der Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger, wo bis vor Kurzem noch die zwei gekreuzten Pfeile waren. Das Petruskreuz war auf seinem Mittelfinger von dem Körper und den Klauen des Adlers bedeckt.
Warum hatte er seine Tätowierungen unkenntlich gemacht? Warum mit diesem Motiv? Nach einem kurzen Augenblick war mir Letzteres nicht mehr allzu fremd. Der Adler - der König der Vögel. Er stand für Mut, Macht, Größe und Stärke. Damit konnte Jagger sich mit Sicherheit identifizieren.
Er hatte zu viel Wasser benutz. Sein Ton war zu weich, um mit den Händen weiter zu arbeiten. Seufzend erhob ich mich. In der Kiste unter dem Beistelltisch suchte ich nach einer Drehschiene. "Hier." Ich hielt Jagger sie hin, doch er guckte das Teil nur vollkommen befremdet an. Genervt stellte ich mich wieder neben ihn, um ihm zu zeigen, wie er das Werkzeug benutzen sollte. Warum tat ich das überhaupt?
Als ich mich wieder von der Töpferscheibe entfernte, um ihm die Drehschiene zu überreichen, bemerkte ich, dass er gar nicht hingesehen hatte. Seine Augen hefteten ausschließlich auf mir. "Du bist wunderschön, Rae", sagte er plötzlich und mein Magen drehte sich einmal um. Hatte er mich auch vorher die ganze Zeit angestarrt? Hatte er sich absichtlich so dumm angestellt?
Ich schluckte hart und drückte ihm das Holzplättchen einfach in die Hand, dann ging ich zurück zu meinem Platz. Eigentlich war meine Schale noch nicht ganz fertig. Die Feinheiten hätte ich noch ausgearbeitet, allerdings wollte ich keine weitere Sekunde in diesem Raum verbringen. Ich schaltete die Drehscheibe ab, beschriftete die Unterlage mit meinem Namen und brachte den Ton zum Trocknen in einen Nebenraum. Ungeduldig schrubbte ich meine Hände sauber. Jagger führte irgendetwas im Schilde und mein Körper schien darauf reinzufallen. Aber meinem Verstand konnte er nichts vormachen. Ich würde nicht auf ihn hereinfallen. Ohne ein Wort verließ ich den Kursraum.
DU LIEST GERADE
Sinners I - Sin Like A Sinner
RomanceSein Name ließ mich erschaudern. Seit jener Nacht kroch mir ein eiskalter Schauer den Nacken hinauf, wann immer ich an ihn dachte. Heute vor zwei Jahren, am ersten Tag des neuen Schuljahres, hatte Jagger Trevino den Albtraum einer jeden Frau wahr we...