Kapitel 16

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Rae McQueen

Nachdem ich mir seinetwegen die Lungen aus dem Leib geschrien hatte, fühlte ich irgendwie gar nichts mehr, außer einem Kratzen in meinem Hals. Kaltes Wasser lief über meine Hand. Er trocknete sie und legte ein Tuch um meine blutigen Knöchel. Kraftlos sackte ich zu Boden. Ich war eine Idiotin. Schweigend setzte Jagger sich neben mich. Wir starrten beide auf die abgedeckte Staffelei auf der anderen Seite des Zimmers.

Auch wenn ein Tuch darüber lag, hatte ich das Bild genau vor Augen. Es stellte mich an diesem Tag dar. Jagger hatte endlich die Mädchentoilette verlassen und ich fiel auf die Knie. Obwohl er gegangen war, spürte ich ihn nach wie vor überall. In dem Gemälde war er ein dunkler Schatten hinter mir, dessen Arme um meinem nackten Körper schlangen. Die Stellen, die er berührt hatte, verfärbten sich. Zwischen meinen Schenkeln war Blut. Das waren die roten Flecken auf der Leinwand. Das Gesicht war blau von den Tränen, die ich geweint hatte.

Trübe Augen musterten mich von der Seite. "Tat es weh?", wollte er auf einmal wissen. Ich sah zu ihm. Sein linker Kiefer war leicht bläulich von dem Schlag, den ich ihm verpasst hatte, aber das war nicht, wovon er redete. Schwer schluckend blickte ich auf meine Fußspitzen, dann nickte ich. Es war mein erstes Mal. "Verdammt", brummte er und sah ebenfalls zu seinen Schuhen hinunter.

Ich hasste ihn. Das war, was ich Jagger vor nicht einmal fünf Minuten ins Gesicht geschrien hatte. Jetzt saßen wir friedlich nebeneinander und ich konnte ihm unbesehen diese Frage beantworten. Nach so großer Unruhe war die Ruhe danach immer viel intensiver. Ich fühlte mich ruhig. Ich fühlte mich entspannt. Ich fühlte mich nicht als hätte ich jeden Moment aufspringen und vor Jagger weglaufen müssen. Ich war unsicher, ob er nun wirklich kapierte, was er getan hatte, doch ich war sicher, dass er kapierte, dass dieser Sex ein traumatisierendes Erlebnis für mich gewesen war.

"Es tut mir leid, Rae." Eine Entschuldigung war nie, was ich wollte, diese jedoch zu bekommen, machte mein Herz leichter. "Ich habe nicht nachgedacht. Ich habe einfach..." Er konnte den Satz nicht vollenden. Nicht nur weil er die Worte nicht wusste, sondern auch weil die Tür mit einem Mal aufging.

Überrascht sah meine Dozentin für Töpfern zu uns. Beschämt sprang ich auf und wischte mit dem Ärmel über mein Gesicht. "Mrs. Dougherty." Ein schiefes Lächeln formte sich auf den Lippen der 60-Jährigen. "Ich brauche nur die Aquarellpinsel. Lasst euch nicht stören", teilte sie uns grinsend mit, ehe sie zum Regal hastete. In aller Eile nahm sie die Kiste und verschwand so schnell wie sie gekommen war. Vor Scham wäre ich am liebsten im Erdboden versunken. Diese Frau dachte, wir hätten Gott weiß was hier drinnen gemacht. Wie hätte ich ihr jemals wieder ins Gesicht sehen können?

Seufzend blieb mein Blick bei der Tür hängen, während Jagger sich neben mir aufbaute. "Du kennst sie?", fragte er. Mit einem Nicken erklärte ich, dass sie den Töpferkurs leitete. "Töpfern?" Er wirkte überrascht. "Ja", entgegnete ich. "Jeden Tag um 14 Uhr." Ich nahm meine Tasche und schulterte sie. "Wo willst du hin?", wunderte er sich. "Die Vorlesung geht noch eine Stunde." Auch wenn ich bezweifelte, jetzt noch einen freien Platz zu finden, wollte ich es nicht unversucht lassen.

Jagger folgte mir. Leider musste ich feststellen, dass ich mit meiner Vermutung richtig lag - wobei nicht vollkommen. Neben Dacre war ein leerer Sitz, aber mir war klar, für wen dieser vorgesehen war. Mit einem Ächzen trat ich zurück. Ich stieß gegen diesen Jemand. "Setz dich zu uns", raunte er von hinten an mein Ohr und mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. "Ich mach dir einen Platz frei." Kopfschüttelnd drehte ich mich um. "Nein. Ich gehe." Gesagt, getan. Ich vertagte keine weitere Sekunde und verließ ohne ein weiteres Wort den Saal.

Mit meinem Laptop setzte ich mich in die Bücherei. Die heutige Vorlesung behandelte den Abstrakten Expressionismus. Ich suchte mir ein paar Bücher und Internetseiten zu dem Thema zusammen, um mich zu informieren. Nach etwa einer Stunde klappte ich das Notebook zu und ging in die große Aula, wo ich zum Mittagessen verabredet war.

Roses von Awaken I Am spielte, als auf einmal eine weibliche Gestalt meinen Weg versperrte. Ich hob den Kopf und erkannte Missy, die mich breit anlachte. "Wie geht's?", fragte sie. "Mein Kater hält immer noch an." Hemmungslos hakte sie ihren Arm bei mir ein. Gemeinsam gingen wir den Gang hinunter. Mit ihr an meiner Seite spürte ich noch viel mehr Leute starren. "Mir geht's gut."

"Dieses Wochenende steigt eine Party in der alten Scheune", meinte sie. "Bist du dabei?" Vergangenes Wochenende verlief schon gegen meine Prinzipien. Das hätte ich nicht noch einmal getan. "Entschuldige, ich habe keine Zeit." Zeit wäre nicht wirklich ein Problem gewesen. Wenn ich ernsthaft zu dieser Party hätte gehen wollen, hätte ich das Abendessen mit meinem Vater absagen können.

Sicherlich hätte er das auch noch herzlichst begrüßt. In seinem Büro hatte er immer was um die Ohren. Bestimmt bekäme ich ein paar Stunden vorher die Absage. Möglicherweise waren da diese Daten, die er bis Ende der Woche auswerten musste. Oder aus heiterem Himmel tauchte ein Geschäftsbericht auf, der schon längst überfällig war.
Zur Wiedergutmachung hätte er dann Pizza bei meinem Lieblingsitaliener bestellt und die Sache wäre gegessen. Wortwörtlich. So lief das nämlich immer. Das letzte Vater-Tochter-Essen lag sieben Monate zurück. Dad hatte dieses monatliche Abendessen eingeführt, als meine Mutter vor anderthalb Jahren ins Ausland reiste. Unsere Bindung sollte nicht unter ihrer Abwesenheit leiden.

Joyce McQueen war berüchtigte Künstlerin, ihre Kreativität verblasste jedoch. Es fehlte an Inspiration. Sie wollte an andere Orte, um ihre Fantasie wiederzubeleben. Jedenfalls hatte sie mir das gesagt. Meine Theorie war, dass die Beziehung meiner Eltern an der Arbeit ihres Mannes zu Brüche ging. Meine Mutter hielt es nicht länger aus, aber eine Scheidung kam nicht in Frage. Sie liebten sich. Vielleicht brauchte es nur etwas Abstand. Daran hatte ich geglaubt. Mittlerweile hegte ich keinerlei Hoffnungen mehr für die beiden. Es war aus.

"Klar. Verstehe." Vor der Aula kamen wir zum Stehen. Braden und Nastia saßen bereits an einem Tisch. "Spätestens an deinem Geburtstag trinken wir wieder zusammen", zwinkerte sie mir zu, ehe sie in den Flur Richtung Cafeteria abbog. Verdutz blickte ich ihr hinterher. Woher wusste sie von meinem Geburtstag? Bevor ich mir eine sinnvolle Antwort überlegen konnte, ergriff Nastia meinen Arm. "Oh, mein Gott", sagte sie und zog mich zum Tisch. "Braden hat eine Literaturstudentin kennengelernt."

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