Kapitel 35

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Rae McQueen

Belle Isle war schön bei Tag. Nachts war es offenbar nichts weiter als eine verlassene Insel. Unheimlich. Ich stapfte durch den Wald. Mutterseelenallein. Zwar hatte ich Missy gesagt, dass ich meinen Geburtstag lieber für mich selbst feiern wollte, so war das allerdings nicht gemeint. Ich hoffte auf Studenten, die jeden Augenblick aus dem Gebüsch springen würden, doch mit jedem Schritt näher zu der Adresse, verblasste diese Hoffnung.

Ich warf noch mal einen Blick auf die Karte. 2334 Oakway. Ich war da, aber niemand sonst war es. Etwas nervös tippte ich auf dem Handy rum. Ich wollte Missy anrufen. Kein Empfand. Ächzend steckte ich das Ding in meine Jackentasche und sah mich um. "Hallo?", fragte ich in die Finsternis. Es gab kein Licht. Nur am schwarzen Himmel leuchtete ein greller Punkt. "Missy?" Eine eisige Brise kam auf. Ich zog meine Lederjacke enger. Verzweifelt drehte ich mich einmal um die eigene Achse. War ich falsch?

Plötzlich hörte ich ein leises Rascheln hinter mir. Nach Luft schnappend wirbelte ich um. Mir kam eine Rauchwolke entgegen. Keuchend beugte ich mich zur Seite. Als ich wieder aufsah, stand Kyle vor mir. Der Mond ließ seine finsteren Züge noch unheimlicher erscheinen. Eingeschüchtert trat ich einen Schritt zurück. "Was machst du hier?", wollte ich verwirrt wissen, denn auch wenn Missy fraglos die halbe Uni eingeladen hatte, würde man seinen Name mit Sicherheit nicht auf der Gästeliste finden. Wir hatten uns nicht oft über die Sinners unterhalten, aber sie wusste, wie ich über diesen Mann dachte. Sie empfand genauso wenig Sympathie für ihn.

"Auf dich warten." Erneut zog er an der Kippe und hauchte mir den Rauch ins Gesicht. Mit der Hand wedelte ich den Schwaden fort. "Ich bezweifle, dass du Geburtstag mit mir feiern willst." Während sich von meiner Magengrube aus langsam ein Unwohl ausbreitete, versuchte ich cool zu bleiben. "Du zweifelst richtig." Er zertrat den Stummel am Boden. Allmählich kam mir der böse Verdacht, in eine Falle getappt zu sein. Es würden keine Studenten aus dem Gebüsch springen. Es würde keine Geburtstagsfeier geben. Die Sinners spielten solche Spiele - brachten unschuldige Seelen, die ihren Zorn auf sich gezogen hatte, in den Wald. Niemand wusste, was in diesem Wald geschah, aber bei ihrer Rückkehr waren sie nie mehr dieselbe Person. Das hier war etwas anderes. Es waren nur Kyle und ich. Alleine in diesem Wald. Kein weiterer Sinner. Was hatte er vor?

Bedrohlich machte er einen Satz auf mich zu. Ohne Zögern wich ich zurück. "Weiß Jag hiervon?", fragte ich tapfer. Langsam bewegte er den Kopf. Nein. Schief grinsend legte er die Hand an meine Wange. "Nur du und ich." Sein Daumen streichelte meine Wange. Ich verzog das Gesicht und lehnte mich von ihm weg. "Ganz wie damals." Wie damals? Mit gefalteter Stirn sah ich zu ihm, doch er sah mich nicht länger an. Er ging einen kleinen Kreis. Das Laub raschelte unter seinen Füßen.

"Jag." Gedankenversunken lachte er auf. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Schweiß klebte unter dem dicken Stoff. Die Haare in meinem Nacken. Voller Ehrfurcht schritt ich zurück. Mein Puls pumpte heftig. "Du liebst den Bastard, nicht wahr?" Die Belustigung in seiner Stimme ließ mich kaum atmen. Sein Lachen war das eines Bösewichts.

Mit einem Mal kam er zum Halt. Sein Kopf schoss hoch und die dunklen Augen funkelten mich an. "Aber er liebt dich nicht." Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. Wovon zur Hölle sprach er? Kyle hatte keine Ahnung von Liebe. Dieses Wort - dieses Gefühl kannte er nicht. Langsam näherte er sich, umkreiste mich. "Nein. Wer würde so etwas lieben." Es war keine Frage. Er war fest überzeugt, dass ich unliebsam war. Ich schluckte den Gedanken daran runter, während ich mich weiter in seinem Tempo mitdrehte. Jag liebte mich. Meine Eltern liebten mich. Dieser Mann kannte mich nicht. Er konnte nicht beurteilen, ob ich liebenswert war. "Widerwertig." Wie schimmliges Brot spuckte er mir das Wort entgegen. Meine Kehle war eng. Kurzatmig schnappte ich nach Luft.

Plötzlich stand er direkt vor mir. Ich wollte von ihm weichen, aber er verfing sich in meinem Haar. Panik wallte in mir auf. Mein Körper wurde eiskalt vor Angst. "Er sagte, du würdest mich niemals einlochen lassen." Kyles rauchiger Atem strich über meine Wange. Mir wurde schlecht. "Das war die Challenge. Er oder ich." Mit einem Mal fühlte ich mich unheilbar. Mein Herz zerfiel in hunderte Stücke. Tränen brannten hinter meinen Lidern. Es war nur eine Wette. Jagger war eine Lüge.

"Aber wir haben beide gewonnen, nicht wahr, Rae?" Schelmisch grinste er mich an. "Du erinnerst dich doch." Mit glasigen Augen sah ich ihn an. Ich war nie sicher. Erinnerungen an diesen Abend waren verschwommen. Ich hatte Träume. In den finstersten Träumen hatte mich jeder der Sinners ein Mal bei Nacht besucht.

Kyle kletterte durch mein Fenster. Nach dem ersten Schultag der elften Klasse wollte ich nicht mehr. In dem kleinen Spiegelschrank im Badezimmer fand ich Tabletten. Meine Mutter hatte hin und wieder eine genommen, wenn sie abends alleine im Bett lag und nicht einschlafen konnte.
Ich hatte nicht den Mut es wirklich zu beenden, also nahm ich statt der ganzen Dose nur ein paar Pillen. Ich wollte es dem Schicksal überlassen, ob ich am nächsten Tag wieder die Augen aufschlug oder nicht. Ich schlug sie wieder auf und ich fühlte mich noch abscheulicher als am Vortag. Es war Kyle. Es war wirklich geschehen.

Ich konnte das Schluchzen nicht unterdrücken, das mir die Kehle hochkroch. Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, die mir aus den Augen strömten. "Oh, nein." Sein rauer Daumen berührte meine nasse Wange. "Warum hast du es getan?", wimmerte ich. Unkontrolliert zitterte meine Unterlippe, bis mein Gesicht mit den folgenden Worten endgültig brach: "Kein Plan. Schätze, ich war einfach geil." Mit einem schlichten Schulterzucken war die Sache für ihn vom Tisch gekehrt. "Und du..." Er warf den Kopf in den Nacken. "Gott, du warst so heiß damals!"

Als er mir wieder in die Augen blickte, war das Grinsen weg. Seine Miene war ernst. "Dein Gesicht ist hässlich, aber ich bin sicher, dass du unter diesen Klamotten genauso heiß bist wie vor zwei Jahren", sagte er. "Als ich deine kleinen Titten heute wiedersah, musste ich an diesen Abend denken." Er drückte seine Stirn an meine Schläfe. Ich presste die Lippen zusammen. "Wenn ich dich einfach umdrehe, sodass ich dein Gesicht nicht mehr sehe, und von hinten nehme..." Kyle beendete den Satz nicht.

Mein gebrochenes Herz hämmerte bis in meinen Hals hinauf. Pure Angst umklammerte es mit eiserner Faust. Schluchzend ließ ich den Kopf hängen. Ich hatte keine Kraft mehr. Ich hatte keinen Willen mehr. Ich konnte mich nicht noch einmal wehren. Ich würde es kein drittes Mal überleben. Heute Nacht würde ich sterben. Ich spürte den Tod schon jetzt in meiner linken Brust. Jag hatte mich verarscht. Es brachte mein Herz zum Stehen.

Sinners I - Sin Like A SinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt