Kapitel 22

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Jagger Trevino

Dicht hielt ich sie in meinen Armen, während auf dem Fernseher irgendeine bescheuerte Romcom lief. Keiner von uns beachtete sie ernsthaft. Sanft strich ich mit den Fingerspitzen über ihren Oberarm.

"Hast du mit jemandem geredet?" Rae schüttelte den Kopf. Das war noch eine Ohrfeige für mein Gesicht.
Die ganzen zwei Jahre lang war sie alleine mit diesem Scheiß. Sie hatte niemanden zum Reden. Niemand der sich um sie kümmerte. Das machte mich... traurig. Der Gedanke, dass sie alleine in ihrem Zimmer saß und regelrecht in Tränen zerfloss, machte mich traurig. Ich schlang meine Arme fester um sie. Von nun an würde sie nie wieder allein sein. Ich schwor mir, bis zu meinem letzten Tag für sie da zu sein. Das war das Mindeste, was ich hätte tun können.

"War es..." Die Frage hörte sich dumm an. Ich zögerte einen Augenblick. "Sehr schlimm?" Sie hatte mir schon gesagt, dass es wehtat, was aber ging in ihr vor sich? Wie tief hatte ich ihr Inneres getroffen? "Ich war 15", erwiderte sie knapp. Den Rest sollte ich mir selbst denken. Ehrlich gesagt, hatte ich keine Ahnung, was ein fünfzehnjähriges Mädchen in so einem Moment empfand. Vielleicht Angst? Eine Mordsangst? Scham? Wahrscheinlich stand sie noch nie völlig entblößt vor einem Mann. Es musste befremdend gewesen sein.

Während ich diesen Tag in meinem Kopf heilig machte, hatte sie all diese schrecklichen Erinnerungen. Ich wollte nicht, dass sie sich so an mich erinnerte. Ich wollte, dass unser erstes Mal für sie genauso atemberaubend war, wie es für mich war. Der Zug war jedoch abgefahren. Hätte es einen Weg gegeben, das rückgängig zu machen, hätte ich es ohne zu zögern getan. Dann hätte ich sie um ein Date gebeten, ich wäre mit ihr ausgegangen und hätte solange gewartet, bis sie sich bereit fühlte, den nächsten Schritt mit mir zu gehen. Fuck, ich wünschte, das hätte ich tun können!

Ich behandelte sie wie eine wertlose Hure. Fickte sie, verließ sie, fantasierte darüber, ihr die sittenlosesten Dinge anzutun. Und nicht eine einzige Sekunde stellte ich das in Frage.

Ihre kleine Hand legte sich um meine geballte Faust und riss mich zurück in die Realität. Es half nicht, sich über die Vergangenheit zu ärgern. Ich sollte meinen Fokus auf die Gegenwart oder sogar eine Zukunft mit Rae legen. Ich hatte noch genug Zeit ihr zu zeigen, wie wertvoll sie war. Da war nur dieser klitzekleine Gedanke in meinem Hinterkopf, dass ich womöglich doch nicht mehr so viel Zeit hatte, dass sie eines Tages einen Fehler erkannte und sich von mir entfernte. Ich war nicht sicher, ob ich das ertragen hätte.

"Bist du sicher, dass du mich in deiner Nähe haben möchtest?" Warum sollte sie? Ich hatte ihr immerhin diese schreckliche Sache angetan. "Jetzt gerade, ja." Aber in Zukunft möglicherweise nicht? Sie hätte ganz einfach einen anderen Mann finden können, der mich ersetzte, doch für mich gab es nie eine Frau, die Rae auch nur im Ansatz gerecht wurde.

Gähnend zog sie die Decke bis zur Nasenspitze hoch. Ihre Lider fielen immer wieder zu. "Möchtest du schlafen gehen?", fragte ich, sie verneinte allerdings und schmiegte sich dichter an mich. Die Vorstellung, das hier irgendwann nicht mehr zu haben, befand sich jenseits der Schmerzgrenze. Daran wäre ich zugrunde gegangen. Müde vergrub ich das Gesicht in ihrem Haar und schlug die Augen ebenfalls zu, als auf einmal das Hausschloss aufging. Sofort richtete ich mich auf. Im nächsten Moment stand ein Mann mittleren Alters im Wohnzimmer. Verdutz musterte er mich und - ich vermutete - seine Tochter.

"Dad." Rae rappelte sich prompt auf und sprang von meinem Schoß. Ihre Wangen färbten sich in einem zarten Rosa.

Ich hatte drei oder vier feste Freundinnen, die Eltern hatte ich jedoch von keiner einzigen kennengelernt. Es war mir nie wichtig, sie kennenzulernen, weil ihre Töchter mir einen Scheiß bedeuteten. Die meisten hatte ich eh nur, um mich von dieser hier abzulenken. Rae war nicht meine Freundin, aber wäre sie es gewesen, hätte ich nichts dagegen gehabt, Bekanntschaft mit ihren Eltern zu machen. Nun, ich machte wohl gerade Bekanntschaft mit ihrem Vater.

Räuspernd erhob ich mich. "Guten Abend, Mr. McQueen", begrüßte ich ihn. "Ich bin Jagger Trevino. Ihre Tochter besucht dieselbe Uni wie ich. Wir haben einige Kurse gemeinsam." Seine Augen wanderten einmal bis zu meinen Zehen hinunter und schließlich wieder zu meinen Locken hinauf, bevor er sich Rae widmete. "Ich gehe schlafen", teilte er ihr mit. "Seid nicht so laut und lass den Fernseher nicht wieder laufen, wenn du auf dein Zimmer gehst." Ein letztes Mal würdigte er mir einen Blick, dann stieg er die Treppen hinauf.

"Dein Vater hasst mich." Mit einem Seufzen sackte ich in die Couch. "Nein", sagte sie und setzte sich zurück auf meinen Schoß. "Er ist nur müde." Und sie war es auch. Müde lehnte sie sich an meine Brust. "Rae, d-" Träge fiel sie mir ins Wort: "Ich will nicht schlafen." Ich stieß einen frustrierten Atem aus und streichelte behutsam über ihren Rücken. "Solltest du aber." Eine Weile sagte keiner etwas, dann fasste ich den Beschluss. "Komm." Ich richtete mich auf. "Ich bringe dich in dein Bett." Jammernd verneinte sie, doch ich ließ keinen Raum für Diskussionen. Rae war am Ende. Es war spät. Dieser Tag war anstrengend. Etwas Schlaf hatte sie dringend nötig.

Quengelnd ließ sie ihre Füße zu Boden sinken. Eigentlich hatte ich vor, sie auf ihr Zimmer zu tragen, aber ich schätze, so weit waren wir noch nicht. Das war okay. Ich griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. "Gute Nacht, Rae." Vorsichtig strich ich ihr Haar zurück. "Gehst du jetzt?", fragte sie. Ich nickte. "Ja. Du brauchst deine Ruhe." Schweigend guckte sie mich mehrere Momente an, dann senkte sie mit einem Nicken den Kopf.

Sie brachte mich noch zur Tür. "Schreib mir, wenn du etwas brauchst, okay?", sagte ich noch, denn auch wenn ich die Nacht nicht bei ihr verbringen würde, wollte ich, dass sie wusste, dass ich für sie da war. Ich wollte keine falschen Eindrücke erwecken oder sie bedrängen, daher war es die bessere Entscheidung, zu gehen. Sie sollte eine Nacht darüber schlafen. Wenn sie am Morgen aufgewacht wäre und mich neben sich sah, sollte sie nicht alles bereuen. Ich wollte mich selbst nicht so angreifbar machen, falls sie mich weggeschickt hätte. Ich war mir sicher, dass, wenn ich diese Nacht bei ihr verbracht hätte, meine Gefühle für sie unwiderruflich gewesen wären. Also ging ich von ihr, doch meine Gedanken kreisten bis Sonnenaufgang nur um Rae.

Du verfluchter Dreckskerl. Du hast sie kaputt gemacht. Bis aufs Letzte zerstört.

Sinners I - Sin Like A SinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt