Kapitel 21

2.6K 125 3
                                    

Rae McQueen

Mit zusammengepressten Lippen saß ich auf dem Beifahrersitz des Jeeps. Wie ironisch, dass es Jaggers Jeep war, in den ich einstieg, nachdem mir dieser Scheiß passiert war. Aber es gab niemanden, der mich sonst hätte abholen können und Missy war auf einmal verschwunden. Busse fuhren zu dieser Stunde nicht mehr. Zu Fuß war es eine Dreiviertelstunde. Diese Gegend war nicht besonders sicher. Mir blieb also kaum etwas anderes übrig.

Ich drückte die Hand an meinen Mund, als trotz der verschlossenen Lippen drohte, ein Schluchzen aus mir zu kriechen. "Wer?", fragte Jagger auf einmal. Der Wagen stand geparkt vor der Haustür, sein Blick heftete trotzdem weiterhin auf der Straße. Kopfschüttelnd löste ich meinen Gurt. Mich bei ihm darüber auszuheulen, was irgendein anderer Idiot mit mir vorhatte, war widersinnig. Ich öffnete die Tür. "Was hat er getan?", versuchte er es weiter, ich stieg jedoch aus und schlug die Autotür hinter mir zu.
Kurzdarauf hörte ich eine zweite Tür zufallen.

Ich hätte ihm nicht schreiben dürfen. Ich hätte mich niemals von Missy überreden lassen dürfen, mit zu dieser bescheuerten Hausparty zu kommen. Das waren wohl die zwei größten Fehler, die ich hätte begehen können. Wie konnte ich so dämlich sein?

Mit meinen zitternden Fingern probierte ich, den Schlüssel in das Loch zu stecken. Seine Gegenwart in meinem Rücken zu spüren, half nicht gerade. "Ich will nicht reden, Jagger", stieß ich erschöpft hervor. "Ist okay." Die rauchige Stimme war plötzlich direkt an meinem Ohr. Seine Brust berührte meinen Rücken und seine Finger meine Hand. Er nahm mir den Hausschlüssel ab, um das Schloss aufzusperren. Schniefend trat ich ein. Bevor ich die Tür vor seiner Nase schließen konnte, betrat auch er das Haus.

Ich stellte meine Sneaker in den Schuhschrank. Mein Herz flatterte immer noch. Mein Puls war so hoch, dass ich jeden Moment Herzversagen befürchtete. Bebend atmete ich ein und strich aufgelöst mit den Fingern durch mein Haar, dann wandte ich mich Jagger zu. Dazu fühlte ich mich eigentlich keineswegs in der Lage, aber ich brauchte jetzt einfach meine Ruhe. "Tut mir leid, dass ich geschrieben habe. Ich-" Meine Stimme wäre beinahe gebrochen. Nervös rieb ich meine nassen Hände aneinander.

"Kannst du bitte einfach gehen?" Kopfschüttelnd machte er einen Schritt auf mich zu. "Nein, ich lasse dich jetzt nicht alleine." Tränen stiegen mir in die Augen. Ein Wimmern kroch meine Kehle hinauf. Prompt biss ich mir auf die Zunge. Sachte legte er seine Hand an meine Wange. Die Finger sanken tiefer in mein Haar. "Bitte." Flehentlich sah ich ihn an. "Nein", hauchte er. Meine Unterlippe begann zu zucken. Es gab nichts, was ich hätte tun können, um seine Meinung zu ändern. Verzweifelt lehnte ich mich in seine Handfläche und schloss die Augen. Ein heißer Tropfen kullerte über mein Gesicht.

"Verdammt", fluchte er leise, ehe er mich an sich zog. Seit Jahren hatte ich keine Arme mehr um mich gespürt. Ich fand einen Trost darin, den ich völlig vergessen hatte. All die Momente, in denen ich so eine Umarmung nötig hatte, schienen mit einem Mal auf mich einzutreffen. Es waren die Momente, in denen ich an jenen Vormittag dachte. Momente, in denen ich versuchte meine Haut aufzukratzen oder so doll mit dem Schwamm schrubbte, dass es blutete, nur um ihn nicht mehr spüren zu müssen. Und von allen Menschen dieser Welt war es gerade er, der mir nun diesen Trost spendete. Das war falsch.

Schweren Atems löste ich mich von ihm, trocknete mir die Wangen mit meinem Pullover. "Du musst gehen", meinte ich zu ihm. "Ich habe es dir gesagt; ich lasse dich jetzt nicht alleine." In seinen Augen lag eine solche Entschlossenheit, dass ich nicht sicher war, ob ich heute noch zur Ruhe kommen würde.

Ich war einfach nur noch müde und hatte es satt. Ermattet rieb ich mit der flachen Hand über mein Gesicht. "Jagger, das hier ist falsch. Du kannst mich nicht trösten." Verwirrt schüttelte er den Kopf. "Was?", fragte er durcheinander. "Wieso nicht?" Er streckte den Arm nach mir aus, doch ich wich abrupt zurück. Gekränkt zog er die Brauen zusammen. Seine Berührungen hätten mich umbringen sollen. Sie waren einmal meine schlimmsten Alpträume. So oft wollte ich wegen ihnen nur noch sterben. Warum fühlten sie sich jetzt an wie das Einzige, was mich jemals heilen könnte?

"Rae, rede mit mir." Er wurde unruhiger, als hätte er im Gefühl, dass ich kurzdavor stand, ihn für immer von mir zu stoßen. Aber warum sollte ihn das in Unruhe versetzten? Er spielte doch nur wieder sein Spielchen mit mir, nicht wahr? Mehr als ein Spiel war es nicht für ihn. Doch warum fühlte es sich so schmerzlich echt an?

Traurig blickte ich in sein beinahe ängstliches Gesicht. "Wir haben so oft darüber gesprochen, Jagger. Du kennst die Antwort. Du weißt, was damals passiert ist." Ich war dieses Thema leid. Zwei Jahre meines Lebens hatte ich mich davon kaputtmachen lassen. Ich war es leid, dass er andauernd diese Fragen stellte, auf die es nur diese eine Antwort gab. Und er wusste die Antwort. Er war da. Er hatte mir den jahrelangen Schmerz zugefügt. Er musste sie wissen, dennoch sah er mich vollkommen ratlos an.

"Was hat das hiermit zutun?", wunderte er sich. Angestrengt atmete ich aus. Es gab keinen anderen Weg. Ich musste es aussprechen. "Weil dieser Typ genau das mit mir vorhatte, was du vor zwei Jahren getan hast." Hilflos flossen die Tränen über mein Gesicht. Er begriff nicht. "Der Kerl wollte dich ficken?", fragte er außer Fassung. Seine Augen waren weit. Wieso erkannte er es nicht? Ein verzweifeltes Schluchzen schlich sich über meine Lippen.

"Nein." Voller Verzweiflung schloss ich die Augen und schüttelte den Kopf. "Nein, Jagger, er wollte mich vergewaltigen." Ich wagte es nicht die Augen zu öffnen. "Du hast mich vergewaltigt." Mein Herz hämmerte in meiner Brust. Mein Atem war flach. Ich fürchtete mich davor, ihn wieder anzusehen. Gleichzeitig wollte ich ihn sehen. Ich wollte sehen, ob sein Gesicht fiel. Ich wollte sehen, ob er es bereute.

"Du hast recht", sagte er plötzlich kaum hörbar. "Ich sollte nicht derjenige sein, der dich tröstet." Langsam schlug ich die Lider wieder auf. Ich hatte Jagger noch nie so gesehen. Sein Gesicht war gefallen. Ein dunkler Schatten bedeckte ihn. Dennoch war da nach wie vor diese Gleichgültigkeit. "Darf ich es trotzdem sein?"

Ich wollte ja sagen. Das alles ergab keinen Sinn. Warum fühlte ich mich in den Armen meines Vergewaltigers so sicher? Warum fühlte ich mich, als könne mir nichts zustoßen? Wie konnte das sein? Vor ein paar Wochen wäre ich in eine unglaubliche Panik verfallen, aber jetzt brachte es mich zur Ruhe. Irgendwie hasste ich mich dafür. Ich fühlte mich ekelhaft. Ich wollte wieder an meiner Haut kratzen, bis jeder Rückstand von ihm beseitigt war.

Jagger war die einzige Person, der etwas aufgefallen war. Nicht meine Eltern, nicht Freunde und auch keine Lehrer sagten etwas. Sicher mochten sie gefragt haben, ob bei mir alles in Ordnung war, aber auch wenn ich ihnen mit den tiefen Ringen unter den geschwollenen Augen ins Gesicht blickte, ein Lächeln aufsetzte und sie anlog, reichte ihnen das. Sie scherten sich nicht genug, um ein weiteres Mal nachzufragen. Wer weiß, womöglich hätte es nur das gebraucht.

Jagger tat das als Einziger. Einmal, zweimal, dreimal. Er fragte immer, was mit mir passiert war. Ich war verletzt und verbittert, weil er es nicht von selbst erkannte, irgendwann ließ ich die Maske jedoch fallen. Heute hatte ich sie fallen gelassen. Und um ehrlich zu sein, hasste ich es. Ich hasste mich

Sinners I - Sin Like A SinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt