Kapitel 29

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Jagger Trevino

Ihr bebender Körper lag in meinen Armen. Immer wieder zuckten ihre Schultern. Ich konnte das Bild von ihrem Gesicht, als sie aufwachte, nicht aus meinen Gedanken verbannen. Mein kleines Bambi hatte verdammte Angst. Was auch immer sie geträumt hatte, hatte Rae einen Todesschrecken eingejagt. Nie wieder wollte ich dieses Entsetzen in ihren Augen sehen.

"Passiert das... öfter?" Für einen Moment hörten ihre Muskeln auf zu zittern. Starr lag sie da, dann drehte sie sich auf den Rücken und sah mich mit ihren traurigen Rehaugen an. "So gut wie jede Nacht." Fuck. Eine Welle ohnmächtiger Wut überrollte mich. Das war meine Schuld. Verdammte Scheiße! Ich hatte ihr so viel mehr Leid zugefügt als anzunehmen war!

Sanftmütig berührte Rae mit ihren Fingerspitzen meinen angespannten Kiefer. Sie war zu gut. Ich hatte das nicht verdient. Für das, was ich getan hatte, hätte mich ihr Hass bis ins Grab verfolgen sollen, doch anstatt mich zu hassen, tat sie das hier.

Ich nahm ihre Hand und drückte sie an meine Lippen. "Es tut mir leid", sagte ich und küsste sie noch einmal. "Es tut mir so leid." Auch wenn sie mir eines Tages verziehen hätte, würde ich das niemals können. Die Erinnerungen würden niemals verschwinden. Nicht ihre und nicht meine. Die Schuldgefühle würden niemals verschwinden. Etwas anderes hatte ich auch nicht verdient. Rae trug die Folgen von diesem Vormittag für den Rest ihres Lebens mit sich. Reue war nichts dagegen.

"Das Essen ist fertig!" Rae blickte auf. Ihre Mutter hatte gerufen. Ich betrachtete sie und wartete ab, ob sie aufstand. Sie tat es nicht. "Willst du nichts essen?", fragte ich sie verständnisvoll. Wenn sie jetzt nicht zu ihren Eltern runter gewollt hätte, hätte ich vollstes Verständnis dafür. Ich wollte ihre Eltern besser kennenlernen, weil ich Rae besser kennenlernen wollte, aber gerade war möglicherweise einfach nicht der richtige Moment.

Nickend richtete sie sich auf. "Ja, lass uns etwas essen." Sie stieg aus dem Bett und ging rüber zum Spiegel. Mit den Ärmeln wischte sie über ihr Gesicht. Mit den Fingern kämmte sie durch ihr Haar. Ihre Mundwinkel zuckten in die Höhe. Ein Krampf zog durch meinen Magen. Sie drehte sich um und ging zur Tür hinaus, als hätte sie nicht gerade den Horror ihres Lebens mitgemacht. Wahrscheinlich hatte sie sich über die zwei Jahre daran gewöhnt... Mit einem Seufzen erhob ich mich, folgte ihr die Treppe hinunter ins Esszimmer.

Sie nahm den Stapel Teller und trug sie zum Esstisch, wo sie ihren Vater begrüßte. Joyce drückte mir den Salat in die Hand. Rae hatte ihre Augen und das goldene Haar definitiv von ihr. Auch der schlanke Körper ähnelte dem ihrer Mutter. Ich brachte die Schüssel ins Speisezimmer. "Guten Abend, Mr. McQueen." Er wimmelte mit der Hand ab: "Graham", und konzentrierte sich weiter auf das Footballspiel im Fernseher. Green Bay Packers gegen Detroit Lions. Rae setzte sich auf einen freien Stuhl. Ich nahm neben ihr Platz.

"Graham, mach das aus." Mit der Ofenform in der einen Hand und einer Wasserflasche in der anderen stieß Joyce zu uns. Beides platzierte sie auf der Tischmitte. Ihr Mann fing keine Diskussion an, schaltete das Spiel ab. Mein Vater hätte mit Sicherheit einen Streit provoziert, wobei meine Mum vermutlich nicht einmal gewagt hätte, so eine Bitte an ihn zu stellen. Ich war froh, dass Rae nicht in einer so toxischen Umgebung aufwachsen musste. Klar, bei ihren Eltern ging es die letzten Jahre auch nicht vollkommen harmonisch zu, jedoch hatte keiner den anderen manipuliert oder gezielt psychisch fertiggemacht. Ihre Eltern spiegelten das, was ich später einmal mit ihr haben wollte.

"Das Rezept ist von einer waschechten Italienerin", verkündete Joyce, nachdem sie allen eine anständige Portion aufgeladen hatte. Ihre Tochter hatte mir erzählt, dass sie erst ein paar Wochen in Rom und im Anschluss drei Monate in Florenz gelebt hatte. Von dort musste sie dieses Rezept haben. Nach Italien kam Frankreich. Sie lebte eine Weile in Paris, danach in Nantes. Ein paar Wochen Belgien. Schließlich noch mal Italien, ehe sie in die Staaten zurückkehrte.

Rae hatte mir das alles mit so viel Begeisterung erzählt. Ich hatte ein bisschen Angst, dass sie eines Tages gehen könnte und ich genau wie Graham allein zurückgelassen werden würde. Mit dem Kunststudium trat sie ja schon in die Fußstapfen ihrer Mutter. Sie war ihr so ähnlich. Ich wäre nicht überrascht.
Doch auch wenn ich mir so ein Leben nicht vorstellen konnte, wäre ich für sie mit nach Europa gekommen. Auf keinen Fall würde ich sie ohne mich gehen lassen.
Italien? Kein Problem. Frankreich? Na sicher. Belgien? Was immer du willst, Schatz. Ich folge dir bis ans Ende der Welt.

Der Gnocchiauflauf war wirklich köstlich. An die italienische Küche hätte ich mich durchaus gewöhnen können. "Was studierst du, Jagger?", wollte Graham mit vollem Mund wissen. "Architektur." Zufrieden nickte er. "Schön", zeigte sich auch seine Frau entzückt. Es herrschte eine angenehme Atmosphäre. Ich konnte nicht anders, als an meine Zukunft mit Rae zu denken. Das ihr lag nahe an dem, was ich mir wünschte. Eines Tages wollte ich mit ihr und unseren Kindern an einem Esstisch sitzen in einem großen Haus, das ich entworfen hatte, mit einem Garten und einem extra Atelier für sie. Abends wollte ich unsere Kinder zu Bett bringen und die Zweisamkeit mit ihr genießen. Ich wollte sie zur glücklichsten Ehefrau und Mutter der Welt machen.

"Liebling, nimm noch etwas." Rae schüttelte den Kopf. "Ich bin satt." War sie satt oder fühlte sie sich gerade unwohl? Sie trug noch immer dieses aufgesetzte Lächeln auf den Lippen. Es schwand langsam. Sorgsam musterte ich sie.
"Wer hat Lust auf Nachtisch?" "Ehrlich gesagt-" Ich löste den Blick von Rae. "-bin ich auch ziemlich satt." Joyce und Graham grinsten einander an. "Gut, dann geht wieder rauf. Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen, Jagger." Ich erwiderte die Worte und bedankte mich für das genussreiche Abendessen. Rae griff nach ihrem Teller, doch ich kam ihr zuvor. "Ich mache das", sagte ich zu ihr. "Geh du schon mal hoch."

Schweigend verließ sie das Esszimmer. Voller Sehnsucht und Sorge folgte mein Blick. Schnell brachte ich das Geschirr in die Küche, eilte anschließend die Stufen hinauf, aber ihr Zimmer war leer. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Wo war Rae?

Sinners I - Sin Like A SinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt