𝐊𝐀̈𝐋𝐓𝐄

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Ich rolle den Brief vorsichtig wieder zusammen und verstaue ihn in einer kleinen hölzernen Box.
Beinahe ein halbes Jahr ist es nun her, dass ich Mags' Worte zum ersten Mal gelesen habe, doch es fühlt sich noch immer so an, als säße mir der Schock und die Trauer über ihren Verlust direkt im Nacken.

Die Tage sind kürzer geworden, und dunkler. Die Sonne zeigt sich nur noch selten, stattdessen ist der Himmel oft von Wolken verhangen, und ein eiskalter Wind weht über die Straßen von Distrikt vier.
Ich habe das Gefühl, das Siegerdorf ist auch dunkler geworden.
Wir alle erwischen uns noch oft dabei, aus dem Fenster zu blicken, um Mags in ihrem Schaukelstuhl sitzen zu sehen. Manchmal hat sie einen entdeckt und zugelächelt. Auch, wenn es nur eine kleine Geste war, hat es düstere Gedanken oft vertrieben.
Doch nun ist sie nicht mehr da.

Ich habe das Gefühl, die Bewohner von Distrikt vier beschäftigt im Moment nur eins: Die bevorstehende Tour der Sieger.
Katniss und Peeta werden in unseren Distrikt kommen und vor allen seinen Bewohnern eine Rede halten.
Überall auf den Straßen oder in den Läden hört man die Leute davon reden.
Viele freuen sich auf ihre Ankunft, andere sagen, dass sie Angst haben, das Kapitol könnte eingreifen, wenn jemand ein Symbol der Rebellion zeigt.
Ich fühle irgendwie beides. Ich weiß zwar, dass die Tour der Sieger jedes Jahr ein schrecklicher Akt ist, wo sich der Sieger der Spiele entweder in falschem Ruhm wälzt oder den Angehörigen denen, die er umgebracht hat, direkt in die Augen blicken muss.
Jedoch ist dieses Jahr alles anders. Schon letztes Jahr war es das. Als Wade Rankine zur Tour der Sieger zu uns kam, hat er verweigert, seinen vom Kapitol vorgeschriebenen Text vorzulesen. Es war ziemlich seltsam, doch er hat die ganze Zeit über nur zu uns geblickt, zu Jinias Angehörigen, als würde er uns auffordern, dem zu folgen, was sie begonnen hat.

Und anscheinend sind nicht nur wir diesem Wunsch gefolgt.

Gerade will ich die rotbraune Truhe mit dem Brief drin verschließen, da fällt mein Blick auf einen Stapel alter Fotos.
Schon lange habe ich in dieser Truhe meine wertvollsten Dinge aufbewahrt, doch ich habe sie schon seit einer Weile nicht mehr geöffnet.
Vor allem die alten Fotos anzusehen, hat mir so oft Unbehagen bereitet, da sie mich an die erinnern, die fort sind.

Doch dieses Mal nehme ich sie heraus.
Das erste ist sehr alt.
Es zeigt Lim, Annie, Aline und mich, gemeinsam mit unseren Eltern.
Ich weiß noch genau, wann es gemacht wurde.
Einen Tag, bevor sie starben.
Ich blicke in die Gesichter meiner Geschwister und in meines. Wir waren noch so jung, so unbeschwert, so glücklich.
Unsere Eltern strahlen in die Kamera. Moms Lächeln ist so hübsch, und es ist das selbe, das meine Schwester Annie hat.
Dad blickt ebenso glücklich in die Kamera, seine roten Locken wehen im Wind, der an diesem Tag zu spüren war.

Vorsichtig streiche ich mit meinen Fingerspitzen über das Bild, und beinahe ist es so, als wäre die Erinnerung hier. Hier, direkt bei mir.
Ich lege das Foto behutsam in die Truhe zurück, und mein Blick fällt auf ein weiteres.
Von Jinia, als sie noch jünger war. Acht oder neun.
Ein weiteres Foto zeigt Mags am Strand.
Ein weiteres Aline, die auf einer Wiese liegt.

Ich lege die Bilder zurück in die Truhe, da sehe ich ein Blatt Papier unter Mags' Brief hervorlugen.
Ich hole es hervor.
Es ist eine Zeichnung. Von meinem Gesicht.
Ich weiß noch, dass Nale es vor ein paar Jahren gezeichnet hat.
Er hat mich wirklich genau getroffen. Die leuchtenden Augen, die schwarzen Locken, und eine Rose im Haar. Und irgendwie auch dieser leere, aber auch so unendlich volle Blick.

Ich weiß nicht, wie lange ich die Zeichnung betrachte. Irgendwie auch mich betrachte.
Mein Blick wechselt zwischen den Fotos und der Zeichnung. Alle auf den Fotos sind fort. Tot.
Und ich bin nur eine Zeichnung. Nicht fort, aber irgendwie auch nicht da.

Tribute von Panem | Stürmische SeeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt