Kapitel Zwanzig: Distanziert

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L I N A

»Wie geht es ihr?«, höre ich benommen eine Stimme fragen, die ich zu niemanden zuordnen kann. Dafür bin ich noch zu weggetreten, um einen sinnvollen Gedankengang herzustellen.

»Ich glaube, es geht ihr gut. Vielleicht hätten wir doch einen Arzt rufen sollen, der sie dann untersucht hätte.«

Eine andere Stimme, die ein warmes Gefühl in meinem Inneren auslöst, hört sich verzweifelt an. Stöhnend versuche ich meine Augen zu öffnen, da ich wissen will, wer sich im selben Raum mit mir befindet. Was ist eigentlich passiert? Ich fühle mich so, als wäre ich von einem Lastwagen überfahren worden, aber ein Kater kann es gar nicht sein, da ich auf der Feier keinen Alkohol getrunken habe.

»Sie wacht auf«, höre ich wieder die erste Stimme, die einer Frau gehört. »Lina! Kannst du mich hören?«

Mit meiner Hand reibe ich über meine Augen und versuche dieses unangenehme Gefühl wegzuwischen. Ein ungewöhnlicher Laut entkommt meinen Lippen, als ein Licht mich blendet, nachdem ich meine Lider blinzelnd öffne. Sofort schließe ich sie wieder und drehe mich auf die Seite um. »Mach das Licht aus, Sophia.«

Aha. Durch seine Worte weiß ich endlich, wer sich mit meinem Adonis im Raum aufhält. Plötzlich steigt mir diese verdammte Übelkeit wieder auf, weshalb ich zu würgen beginne. Es wäre schade, wenn diese weichen Bettlaken meinetwegen ruiniert werden. »Hier«, flüstert Dean mir zu und hält mir einen Eimer vor die Nase. Augenblicklich entleere ich meinen Magen, während mein Freund mir die Haare aus dem Gesicht hält.

»Was hat sie?« In Sophias Stimme kann ich leichte Panik erkennen, gemischt mit Ekel. Ich kann ihr das nicht verübeln, da es mir genauso geht, wenn ich jemanden beim Kotzen beobachte. »Ich weiß es nicht. Sehr wahrscheinlich hat sie etwas Falsches gegessen und ihren Magen verstimmt.«

Noch immer über den Eimer gebeugt, denke ich darüber nach, was ich in den letzten Stunden zu mir genommen habe. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. »Könnte es sein, dass sie schwanger ist?« Meine Haare fallen mir ins Gesicht und kitzeln meine Wangen. Dean hat sie los gelassen und sagt kein Wort zu seiner Schwester. »Wie verhütet ihr denn?«

Mein Körper erstarrt, als ich ihr Gesagtes vernehme. Eine unangenehme Gänsehaut bildet sich auf meiner Haut. Ein Zittern erfasst meine Hände, sodass ich mich an dem Kübel festkralle, um ihn nicht fallen zu lassen. Was hat sie gerade gesagt? Könnte etwas Wahres dran sein? In meinem Kopf raucht es bereits und fieberhaft versuche ich mich an unseren intimsten Moment zu erinnern. Nicht an die magischen Augenblicke, die wir miteinander geteilt haben, als wir den letzten Schritt gegangen sind und unsere Seelen miteinander verwoben haben. Mein Verstand will wissen, ob Dean ein verdammtes Kondom benutzt und an die Verhütung gedacht hat.

»Sie nimmt die Pille.«

»Nein, nehme ich nicht«, würge ich hervor und verursache mit meiner Antwort eine unheimliche Stille im Zimmer.

Woher will er das wissen? Er hat mich nicht mal danach gefragt, denn sonst würde er wissen, dass das nicht der Wahrheit entspricht. Wieso sollte ich sie nehmen? Immerhin hatte ich seit zwei Jahren keinen Sex mehr. Ach du Scheiße! Hat mich mein Freund bei unserem ersten Mal geschwängert? Nein, bitte nicht. Versteht mich nicht falsch. Ich will Kinder und die will ich auch mit ihm, aber wir sind nicht so weit. Dafür ist es viel zu früh. Sobald mein Magen sich beruhigt hat, setze ich mich auf.

»Wo ist das Badezimmer?«

Bevor ich mit ihm darüber sprechen werde, muss ich meinen Mund ausspülen und diesen widerlichen Geschmack loswerden. »Die erste Tür links.«

Sophias Augen sehen mich mitleidig an. Ich versuche nicht hinzusehen und die Tatsache zu akzeptieren, dass Dean noch immer auf dem Bett hockt und ins Leere starrt. Verdammt! Bestimmt hat seine Schwester unwillkürlich Erinnerungen heraufbeschworen, die ihn an die Schwangerschaft seiner Ex-Frau erinnern. Zumindest nehme ich das an, da er eigentlich nichts Schönes damit verbindet, sondern nur Leid und eine Menge Schmerz. »Danke«, flüstere ich leise und ergreife die Flucht aus diesem stickigen Zimmer.

Im Badezimmer drehe ich sofort das kalte Wasser auf, spüle meinen Mund aus und spritze mir einige Tropfen ins Gesicht. Ich will mich nicht mal anblicken, da ich mir denken kann, wie schrecklich ich aussehen muss. In meinem Inneren herrscht ein Durcheinander, welches ich niemanden beschreiben kann oder zumuten würde. Einerseits dreht sich alles in meinen Kopf, jagt mir eine Heidenangst ein und lässt mich vieles anzweifeln. Auf der anderen Seite breitet sich eine Leere in mir aus, die ich nicht aufhalten kann oder auch nicht aufhalten will. Denn durch dieses Gefühl verschwinden die Gedanken, die mir Kopfschmerzen bereiten und lassen mich in einem Zustand zurück, in dem alles egal erscheint.

Nichts ist wichtig und doch weiß ich, dass ich etwas dagegen unternehmen muss. Aber ehrlich? Ich bin viel zu schockiert darüber und irgendwie fehlt mir auch die Kraft dafür.

Ziemlich ausgelaugt lehne ich mich mit geschlossenen Augen an die Tür und lasse mich langsam fallen. Meine Arme umschlingen meine Beine, die ich angewinkelt habe und bewege mich leicht vor und zurück. Als wäre ich ein Kind, dass jemand in den Schlaf wiegt. Ich weiß nicht, wie lange ich mich hier drin einsperre und verstecke, da mich mein Zeitgefühl im Stich gelassen hat. Aber nach einer Weile höre ich ein leichtes Klopfen an der Tür, weswegen ich vor Schreck zusammenzucke.

»Ist alles okay bei dir?« Eigentlich hätte ich mit Dean gerechnet, der sich nach mir erkundigen würde, jedoch ist es Sophias sanfte Stimme, die zu mir durchdringt. Durch diese Leere in mir stört es mich nicht einmal. Aber sobald diese verschwindet, dann wird alles wie eine Lawine auf mich einstürzen und mich in den Abgrund reißen. »Ich denke schon«, antworte ich ihr leise und doch hat sie mich gehört.

»Mach die Tür auf, damit wir reden können«, verlangt sie und lässt mit dieser Aussage meine Augenbrauen in die Höhe wandern.

Sie will reden? Worüber?

Ist doch alles gut.

Ich meine, eine Schwangerschaft würde mir nichts ausmachen, auch wenn ich mich in diesem Moment verloren fühle. Immerhin wollte ich schon immer irgendwann Kinder. Auch wenn es zu früh für uns beide ist, so kann dieses kleine Ding in mir nichts dafür. Also, falls es wirklich so ist. Ich sollte einen Termin bei meiner Frauenärztin vereinbaren, damit ich die Gewissheit bekomme, bevor ich mir da noch etwas einbilde, dass nicht da ist.

Vorsichtig und ein wenig schüchtern öffne ich Deans Schwester die Tür. Ich will ihr nicht unbedingt in die Augen schauen, da ich darin nur Mitleid sehen würde, welches ich nicht verstehe. Ich kann nicht nachvollziehen, weshalb sie ein solches Gesicht macht. Ein Baby ist kein Weltuntergang und wie schon gesagt, wollen wir irgendwann beide eine eigene Familie. Vielleicht war meine Reaktion darauf auch übertrieben, aber da ich in diesem Augenblick meine Emotionen verschlossen habe, werde ich das alles in den nächsten Tagen fühlen.

»Wo ist Dean?«, will ich wissen.

»Tut mir leid, Lina«, erwidert Sophia und verwirrt mich mit ihren Worten. Wieso entschuldigt sie sich? Sie hat nichts Falsches getan. »Was tut dir leid?«

»Er ist weg. Dean braucht Zeit für sich und ist gegangen.«

Wie, er ist weg?

Wieso ist er nicht bei mir und spricht mit mir? Ich kann das gerade nicht nachvollziehen. Müssten wir nicht zuerst einen Test machen, bevor wir Schlüsse aus dieser Situation ziehen? Er würde mich doch nicht allein lassen? Oder etwa doch?

Anscheinend funktioniert die schützende Maske nicht wirklich gut, die ich mir errichtet habe, da eine Welle von Emotionen auf mich einprasselt. Tränen bilden sich in meinen Augen, versuchen einen Weg zu finden, hinunterzukullern. Nur versuche ich sie krampfhaft zu unterdrücken, was mir nicht gelingen will. Dean hat versprochen nichts Dummes zu tun und doch hat er mich in diesem Moment allein gelassen. Mein Ex hat zwar etwas ganz anderes gemacht und doch erinnert mich diese ganze Situation an ihn.

Sobald sich eine gelöst hat, folgt ihr eine weitere und kurz darauf breche ich in Sophias Armen zusammen. Nur ein Gedanke lässt mich nicht los, der immer lauter wird und mir etwas sagt, was ich nicht wissen will.

Es hätten Deans Arme sein sollen, die mich auffangen. Aber leider waren es seine Hände, die mir am Ende einen Schubs über die Klippe gegeben haben.

Zuckersüß wie dunkle Schokolade | ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt