Nach dem Essen ging ich sofort auf den Dachboden, dann hatte ich den unangenehmen Teil des Abends hinter mir. Früher hatte ich immer Angst vor der steilen und knackenden Holztreppe, die jedes Mal unter meinem Gewicht nachgab, obwohl ich nie viel wog, und der quietschenden Tür, die den verstaubten und teilweise unheimlichen Dachboden von unserem fröhlichen Flur im 2. Stock trennte, doch heute machte mir das nichts mehr aus, es fühlte sich sogar schon fast richtig an diese Trennung zu passieren. Früher kam es mir immer so vor, als würden 2 vollkommen verschiedene Welten, gefüllt mit unzähligen Abenteuern, aufeinander treffen, doch jetzt war es nur ein normaler Dachboden.
Ich besaß diese Fantasie von damals nicht mehr.Ich öffnete die Tür, was mir erstaunlicherweise nicht schwer fiel. Bei meinem letzten Mal, als ich sie geöffnet hatte musste ich mich mit voller Kraft dagegen werfen. Ich war wohl erwachsen geworden.
Früher wirkte alles hier oben so bedrohlich und fremd. Jetzt war es für mich einfach nur ohne große Bedeutung.
Ich tastete an der Wand nach dem Lichtschalter und wartete vergebens auf eine Reaktion. Super, dann musste ich mich halt mit dem bisschen Licht, das durch das kleine Fenster an der Schräge fiel, zufrieden geben. Immerhin konnte ich so die ganzen Spinnen und andere Insekten nicht sehen, die hier vermutlich nisteten.Meine Augen brauchten ihre Zeit bis sie sich an die Dämmerung gewohnt hatten, dennoch tastete ich mich vorsichtig zu dem Regal mit meinen Spielsachen vor. Mein Herz klopfte mit jedem Schritt den ich näher an es heran trat. Vielleicht war es auch nur die Angst ausversehen in ein Spinnenweben zu greifen.
Ich setzte mich neben das Regal und öffnete die erste Kiste, die sich in ihm befand. Die erste von vielen. Zum Glück fand ich nur meine alten Sachen darin wieder und keine ungebetenen Gäste. Viele Sachen davon waren unbrauchbar, aber ich behielt trotzdem ein paar Sachen. Am Boden der besagten Kiste fand ich einen verstaubten Handspiegel. Ich hatte ihn noch nie in meinem Leben gesehen, doch irgendwie griff meine Hand automatisch nach diesem Ding. Vorsichtig rieb ich mit meinem Ärmel den Staub von der Spiegelfläche und seufzte.
Ich sah im Spiegel einen armen, mageren und blassen Jungen. Die tiefen Schatten unter seinen Augen ließen ihn immer müde,schwach und traurig, gar hässlich, aussehen, egal wie er gelaunt war. Seine Augen wirkten trüb. Der Typ gegenüber von mir war 27 Jahre alt und sah aus, als hätte er in seinem Leben noch nie etwas von Schlaf gehört. Die Sommersprossen, die mal sein Gesicht zierten, wirkten wie verstaubt. Sie waren fast komplett verblasst. Seine blonden Haare hingen matt an seinem Kopf. Es kam einem so vor, als gehöre er nicht mehr zu den lebenden, er wirkte mehr tot als lebendig.
Er war noch nicht lange Arzt, doch er war schon so kaputt.So viele verschiedene Menschen hatte er schon gesehen. Schlechte Nachrichten überbracht ohne mit der Wimper zu zucken, wenn man sowas oft macht gewöhnt man sich halt dran. Er sah Menschen lachen und weinen, sterben und leben und dennoch war er glücklich, zummindest ging er davon aus.
Seufzend ließ ich die Hand mit dem Spiegel zu Boden sinken und lehnte meinen Kopf erschöpft gegen die Wand. Hatte ich echt gedacht, dass der Spiegel irgendwas mysteriöses oder besonderes an sich hatte? Vermutlich hatte ich die Hoffnung noch einmal in meine kindischen Fantasien versinken zu dürfen. Zurückkehren in eine Welt, wo es keinen Stress gibt und man am liebsten direkt erwachsen wäre. Man glaubt noch an das Gute im Menschen und lebt einfach ohne einen Gedanken an Sachen wie Steuererklärungen, Mieten oder Stromkosten verschwenden zu müssen.
Ich könnte wetten, dass dieser Spiegel meiner Schwester gehörte und nur durch Zufall bei meinen Sachen gelandet war. Nichts besonderes, nichts magisches oder mysthisches. Nichts. Ich müsse die Tatsache akzeptieren, dass sich mein Leben nunmal verändert hat und ich nie wieder in irgendwelchen Abenteuern versinken werde. Mein Leben kam mir aufeinmal so schrecklich eintönig vor.
DU LIEST GERADE
Durch den Spiegel
FanfictionDer 27 jährige Stegi führt ein normales Leben als Arzt in einem Krankenhaus. Bis ein Besuch bei seinen Eltern alles verändert. Auf dem Dachboden findet er einen, anfangs unscheinbaren, Handspiegel. Doch dieser Spiegel verbirgt mehr Geheimnisse, als...