Kapitel 6

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Seufzend presste ich den Spiegel gegen meine Brust. Was war das für eine komische Begegnung? Vielleicht hatte das Studium ja doch mehr psychiche Schäden hinterlassen als anfangs gedacht. Da ich heute vermutlich keine Antworten auf meine mittlerweile unzähligen Fragen bekommen würde, fing ich an die anderen Kisten zu durchsuchen um anschließend wieder nach unten gehen zu können.

Den restlichen Abend musste ich die ganze Zeit an dieses mysteriöse Mädchen denken. War es wirklich Zufall, dass ich diesen Spiegel entdeckt hatte, war es vielleicht Schicksal oder war es doch nur Einbildung?

Nichts desto trotz nahm ich den komischen Spiegel mit in mein Zimmer, als ich fertig war. Ich ging früh schlafen, was meinem zerstörten Schlafrhythmus ziemlich gut tat, und genoss das Gefühl endlich wieder zu Hause angekommen zu sein.
Es war ein vollkommen anderes Gefühl zu Hause in meinem bunten Kinderzimmer zu schlafen, als in meiner kleinen Wohnung mit den weißen Wänden.
Am liebsten würde ich für immer hier bleiben. Es ist für mich mehr als nur ein Zimmer. Hier stecken unzählige Erinnerungen aus meiner Kindheit. Hier raste die Zeit nicht so schnell davon, wie sonst. Hier bestand mein Leben aus mehr als nur aus 'Aufstehen-Arbeiten-Schlafen'.

Am nächsten Morgen wachte ich um 5 Uhr auf, was für mich ziemlich typisch war. Mein Schlafrhythmus wurde durch mein Studium völlig zerstört und mittlerweile war es für mich normal geworden.
Ich schaltete die bunte Flugzeuglampe an. Sofort wanderte mein Blick zu meinem Nachttisch wo der Spiegel lag. So alleine und so unberührt.

"Hallo?", flüsterte ich vorsichtig und unsicher. Ich war neugierig und wollte unbedingt wissen, ob das alles hier Realität ist.
"Schon wach?", fragte eine freundliche Stimme und langsam erschien dieses Mädchen wieder im Spiegel. Sie sah genau so aus wie gestern, so fröhlich, so gesund, so normal und so verdammt menschlich.
"Ja. Ärzte Schlafrhythmus", lachte ich etwas verlegen und kratzte mich am Hinterkopf.
"Als ich 14 war wollte ich auch immer Ärztin werden", lächelte sie, doch wenn man genau hinsah, sah man in ihren Augen eine Träne aufblitzen.
"Warum bist du es nicht geworden?", fragte ich sie.

Ich kam aus dem Staunen über sie nicht mehr heraus. Sie war so anders als die meisten anderen Mädchen denen ich bisher begegnet bin und das nicht nur, weil sie in diesem Spiegel war, es war ihre Art.
"Also gut.", seufzte sie und machte eine kurze Pause. Sie holte tief Luft, als bräuchte sie für den nächsten Satz extrem viel Kraft, dann sagte sie: " Ich wurde nie 18. Nicht offiziell". Ihre Stimme wurde gegen Ende etwas leiser und schwächer. "Warum nicht?", hakte ich nach. "Ich darf nicht drüber reden, eigentlich, aber ich muss es jetzt einfach machen", sie seufzte. Ich nickte nur und brannte förmlich drauf ihre Geschichte zu hören.

"Ich war 16, als ich das erste Mal offiziell auf einer Party war. Ich war nie ein Freund von lauter Musik und Alkohol und mied solche Veranstaltungen immer. Meine beste Freundin und mein Ex Freund hatten mich dazu überredet und deshalb bin ich mitgekommen. Ich glaube zum mindest, dass er jetzt mein Ex ist. Schluss haben wir nie gemacht. Da ich, wie schon erwähnt, kein Fan von sowas bin, bin ich nach 2 Stunden schon wieder abgehauen. Und das alleine. Mein Weg führte durch einen Wald, aber es war erst 23 Uhr, und so redete ich mir ein, dass es nichts gibt vor dem ich mich fürchten muss. Dann kam da so ein Mann..", sie stoppte kurz und schluckte. Ich hing , gefesselt von dem was sie sagte, förmlich an ihren Lippen, dennoch sah ich wie sehr sie jedes Wort heraus presste und wie sehr sie ihre Vergangenheit beschäftigte.

"Er kam auf mich zu und wollte mich packen, aber ich bin weggerannt. Er hat mich nicht bekommen, da er irgendwann aufgegeben hat. Nicht weil ich so schnell war, sondern weil ich in eine alte Ruine gefallen bin und er mich nichtmehr gefunden hat. Ich war sofort tot und wurde nie gefunden."

Ich sah sie mit geweiteten Augen an. "Und dann warst du aufeinmal im Spiegel?!", versuchte ich zu schlussfolgern. "Nein. Zu jedem Menschen gehört ein Schatten bzw eine Spiegelung. Diese Verschwindet niemals, auch nicht,wenn der Mensch stirbt. Und da ich tot bin, ist meine Seele in den Spiegel zurückgekehrt. Ich kann also reden und bin wie damals als ich noch lebte, nur trennt mich eine Glasplatte von der Realität.", beantwortete sie meine Frage.
"Das ist ja krass", staunte ich.
"Das schlimmste an allem ist, dass man mich nie gefunden hat. Ich wünschte ich könnte meinen Eltern all die Antworten geben die sie verlangen und auch verdient haben. Ich wünschte ich könnte ihnen sagen, dass es mir gut geht und was damals geschah.", sie seufzte wieder.
" Vielleicht kann ich dich zu ihnen bringen.", schlug ich begeistert vor.
"Leider nein. Nicht jeder Schatten ist für jeden sichtbar. Die Chance auf einen Menschen zu treffen ist sehr gering, deshalb bin ich ja auch so froh, dass du mich siehst", zerstörte sie meinen Plan. "Und wenn ich ihnen die Antworten gebe?", fragte ich. "Es wäre komisch, wenn ein Fremder plötzlich vor ihnen steht und behauptet ihnen Antworten geben zu können. Dennoch können wir es gerne versuchen.", sie lächelte und ich tat es ihr gleich.

Durch den SpiegelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt