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Er schnaubte verächtlich und griff das Päckchen Kaugummi von der Ladentheke. ,,Das letzte Mal haben diese Mistdinger nur ein paar Cent gekostet." Der Kassierer, ein älterer, grauhaarige Mann mit dünnen bleichen Armen in einem viel zu großen Kassiererkittel zuckte hilflos mit den Schultern, während seine glasigen Augen über Als Jackett wanderten. Al schmiss das Geld auf den Thresen und verließ eilig das Geschäft. Auf dem Fußgängerweg zündete er sich eine schwarze Zigarette an und inhalierte genüsslich den Qualm. Seine stechend grünen Augen wanderten über die Gebäude, das rege Treiben auf der Straße und blieben schließlich an einer großen, schwarzhaarige Frau in einem marineblauen Kleid hängen, die ein Handy dicht am Ohr, mit klackernden Schritten an ihm vorbei lief. Mit einem süffisanten, aber unauffälligen Blick folgte er dem Schwung ihrer Hüften, bis sie im Gedränge verschwunden war. Dann drehte er sich um und tauchte selbst in das Menschengedränge Richtung Innenstadt.

Al lauschte dem sanften Gesang der männlichen Stimme, die schwer wie ein süßer Wein durch den Lautsprecher seiner Kopfhörer in sein Ohr säuselte. ,,Wir sind alle anämisch." hauchte die ihm so vertraute Stimme und für einen kurzen Augenblick schloss er seine Augen, um dem drängenden Wunsch in seinem Inneren nachzugeben, die Bilder, die vor seinem inneren Auge auftauchten, langsam vorbei ziehen zu lassen.

Mitten durch die sanften Klänge drang plötzlich das lauten Surren eines Smartphones. Entnervt wich Al einigen Passanten aus, die es offenbar sehr eilig hatten, nach der Mittagspause wieder zurück ins Büro zu kommen.

,,Ja?" ,,Gottverdammt Al! Wo steckst du? Ich versuche schon seit gestern abend, dich zu erreichen! Du hast es vergeigt!" Al schloss die Augen und schluckte schwer. ,,Tut mir leid, Roja. Der Job ist einfach nicht mein Ding. Den ganzen Tag nur E-Mails schreiben und irgendwelche nervigen Kunden in der Warteschleife bedienen. Ich kann das einfach nicht." ,,Das ist der beschissene sechste Job, den ich dir an Land ziehe. Scheiße! Werd endlich erwachsen. Ich habe meinen Kopf für dich hingehalten. Was denken die denn jetzt von mir?" Roja klang völlig aufgelöst. ,,Es tut mir so leid, Roja..." ,,Blablabla. Das ist alles, was ich von dir höre. Immer nur blablabla..." Al schwieg betreten.

,,Merk dir eins, Al. Wenn du deine Wohnung verlierst, kannst du nicht wieder bei mir einziehen! Ich habe auch ein Leben, verdammt." Es tutete und Al seufzte. Er wusste selbst nicht, warum er den Job vergeigt hatte. Eigentlich war die Arbeit nicht schwer und er war auf das Geld angewiesen.
Mit hängenden Schultern betrachtete Al sich im Schaufenster eines Elektronikgeschäftes, das auf der rechten Seite an den Bürgersteig grenzte. Seine Beine steckten in zwei gräulich-ausgewaschenen Hosenbeinen, dazu der völlig zerkratzte, braune Ledergürtel und der grau-blaue Pullover, den er schon so lange besaß, dass bereits einige Nähte sich gelöst hatten. Das einzig modische Kleidungsstück, das er trug, war das dunkelgraue Jackett. Doch es ließ ihn verloren wirken.

Was ist nur mit mir los? dachte Al bitter und lief den Weg zurück in seine spärlich- eingerichtete Zwei-Zimmer-Wohnung. Er hatte Rojas Geschwisterliebe wirklich überstrapaziert und das wusste er auch. Als ältere Schwester fühlte sie sich für vieles verantwortlich, gerade nachdem beide Elternteile vor knapp drei Jahren verstorben waren. Verwandtschaft gab es kaum und wenn, dann nur per Karte zu Weihnachten. Sie hatten es beide nicht leicht gehabt. Roja war eine Kämpferin, hatte sich aus dem ärmlichen Landleben hochgekämpft in die Stadt, zum angesehensten Unternehmen für Computertechnologie. X-Ron.
Sie war nicht nur though, sondern auch schön. Al lächelte vor sich hin. Roja hatte immer all das erreicht, was sie wollte.
Ein leichter Stich durchfuhr seine Brust und er spürte, dass er sie vermisste.
Seine Schuldgefühle hielten ihn allerdings davon ab, ihr zu schreiben und sie zu fragen, ob sie mit ihm zu Abend essen würde. Wahrscheinlich würden sie sich eh nur wieder über die Arbeit streiten.

Al ließ sich auf die kleine, dunkelgrüne Couch fallen, die in dem größeren der beiden Räume neben einem Fenster stand, das einen Blick auf die Straße frei gab. Ziellos ließ er seinen Blick durch die Wohnung schweifen. Er besaß nicht viel und das meiste seiner Möbel hatte die besten Jahre schon lange hinter sich.
Das sein Leben anders verlaufen würde, hatte er sich seit seiner Teenagerzeit gewünscht. Es gab Dinge, Abgründe in ihm, über die er sich nie zu sprechen getraut hatte. Meistens schob er diese Abgründe rasch beiseite und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Ablenkung.
Wie vom Blitz getroffen stand Al wieder vom Sofa auf und befreite sein Handy aus der Manteltasche. Vielleicht hatte jemand Zeit, mit ihm durch die Bars zu ziehen.

,,Und du bist dir sicher, dass es an den Mails lag?" James schüttelte stumm den Kopf.
,,Ich weiß auch nicht." brummte Al missmutig. ,,Roja hat mir diesen Job vermittelt. Sie schienen mich zu mögen. Und dann wurde es schnell komisch. Ich kann dir nicht sagen, warum. Es war wie bei den anderen Stellen vorher auch. Als ob sie etwas über mich wüssten, das ich nicht weiß." ,, Vielleicht bildest du dir das nur ein." Al schwieg.
,,Vielleicht..." sagte er schließlich und trank einen Schluck Whisky. James grinste und drehte sich mit dem Rücken zur Bar. ,,Deine Schwester....ist schon echt heiß. Irgendwie kann ich verstehen, dass du in ihrem Schatten stehst." ,,Ach leck mich doch!"
,, Verkuppel mich doch mal. Dann stärke ich dir den Rücken." ,, Arschloch." James lachte. ,,Ich fürchte, ich kann dir nicht helfen, Al. Ich wusste schon immer, dass ich was mit Finanzen machen will. Tut mir leid für dich, aber ich bin froh drüber." Al drehte den Kopf und blickte zu James herüber. ,, Es ist, als hätte Roja Energie für uns beide. Und dadurch habe ich keine mehr. Verstehst du was ich meine?" ,,Nicht wirklich." James nippte an seinem Getränk und seine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf die Tür. ,,Oha. Schau mal darüber."

Sie hatten die Bar verlassen und James legte einen Arm um die Eroberung seines Abends. ,, Ich wohne nicht weit von hier..." säuselte er leise und das braunhaarige Mädchen lachte. ,,Ach was." neckte sie ihn und ihr schlanker Körper reckte sich mitsamt ihrem Kopf James Lippen entgegen. Al beobachtete die beiden neidisch. Bei ihm war es weniger gut gelaufen, aber das war nichts Neues. James sah mit seinem blonden Wuschelhaar nicht nur verboten gut aus, er hatte auch ein hübsches Gesicht und war erfolgreich in seinem Job.
Al spürte Wut in sich hochkochen, doch wie so oft unterdrückte er sie und schob sie eisern beiseite.
James war einer der wenigen Freunde, die er seit der Schulzeit noch hatte. Auch wenn sich ihre Leben völlig voneinander unterschieden und Al im Gegensatz zu James ziemlich verloren wirkte.

,,Kommst du, Al?"
Al lief ihnen mit Abstand hinterher, die Hände tief in den Taschen seiner abgenutzten Stoff-Jacke vergraben.
Die Straßenlaternen tauchten die Gehwege in ein kaltes, hartes Licht und der Himmel über der Stadt war pechschwarz. Al blieb stehen. Kam es ihm nur so vor, oder war es dunkler als gewöhnlich?
Er lief jeden Tag mindestens die Hälfte der Strecke zum Backshop um die Ecke und die Straßenlampen stand nah genug beieinander, um ein helles Licht zu erzeugen, das die Straße in eine muntere, ausgelassene Atmosphäre tauchte. Es wirkte nie kalt.

Hinter seinem Rücken ertönte das Klirren einer Glasflasche und dann etwas, das sich wie das Trappeln leichter Füße anhörte. Als etwas warmes, weiches seine Hand berührte, schrie Al erschrocken auf und fuhr herum. Nichts.

In dem Augenblick, in dem er sich wieder nach vorn drehte, flackerte das Licht der Straßenlaterne vor ihm und ging schließlich ganz aus. Wie vom Blitz getroffen taumelte Al ein paar Schritte zurück, als im Schatten der Laterne die Gestalt eines Mädchens auftauchte.
Al kniff die Augen zusammen und versuchte, sich daran zu erinnern, wie viel er getrunken hatte. Das musste an diesem verflucht-starken Whisky liegen, den er immer trank, wenn er mit James unterwegs war. Jedes Mal schwor er sich, er würde nur eine Cola bestellen. Und dann passierte etwas und Al versuchte das immer größer werdende, bittere Gefühl in seinem Inneren in der bernsteinfarbenen Flüssigkeit zu ertränken.

Die Gestalt war weg. Genauso wie James. Mit einem dröhnenden Gefühl im Schädel stapfte Al zurück in seine Wohnung. Die Straßenlaternen warfen ein spärliches, vertraues Licht durch die Fenster, legten sich wie vertraute, alte Freunde auf den Fußboden vor der Couch. Al verzichtete darauf, das Licht anzumachen, als er durch die Haustür trat.
Er fiel auf die Couch und war binnen Sekunden eingeschlafen, ohne den Schatten zu bemerken, der sich lautlos durch das Zimmer bewegte.


Mariahs LammWo Geschichten leben. Entdecke jetzt