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Der trockene Kloß in Al's Hals fühlte sich wie ein Tennisball an, der ihm die Luftröhre zerquetschte.
Er unterdrückte das Verlangen, das Gefühl mit einem Würgen zurückzudrängen und dachte daran, sich einfach nach vorne zu neigen, um die Lippen der Krankenschwester zu kosten.
Es wäre das erste Mal seit langem.
Das letzte Mal, dass ein weibliches Wesen ihm so nah kam, war in der Schule in der elften Klasse. Die Erinnerung verblasste langsam.
Auf einer Klassenfahrt hatten sie Flaschendrehen gespielt und Leonis kurzer Kuss war das Schönste gewesen, was er in diesen beschissenen drei Restjahren Schule erlebt hatte. Sie sah das offenbar anders. Von da an war er der Fake-Froschkönig und überall auf seine Sachen schrieben sie "Don't Kiss" mit einem Totenschädel und fanden es verdammt witzig.

Mit einem Rascheln öffnete die Schwester die Verpackung der Spritze und griff nach der Kanüle. Kaum dass sie die feine Nadel auf das Plastikröhrchen gesteckt hatte, griff sie auch schon nach Al's Arm. ,,Mach eine Faust." raunte sie leise. Er beobachtet sie, während er seine Hand ballte. Ihre schwarzen Haare glänzten im kalten Neonlicht. Der Anhänger ihrer Kette war aus dem Ausschnitt des Kittels gefallen und baumelte verirrt zwischen ihren Armen hin und her. Es war ein seltsames Symbol mit spitzen Zacken, die Oberfläche war schmutzig, schwarz und zerkratzt. Das musste ein sehr alter Anhänger sein.
Al spürte das Pieken an seinem Arm gar nicht und ehe er sich versah, klebte ein kleines, hautfarbenes Pflaster dort, wo bis eben noch die Spritze gesteckt hatte.
,,Danke." murmelte er gedankenverloren und hob seinen Blick.

Pechschwarz und blutunterlaufen waren die Augen der Schwester geworden, während die Nadel, die eben noch in Al's Arm gesteckt hatte, nun in ihrem nahezu verschwand. Überall war Blut, auf der Haut, am Kittel und auf dem Boden. Mit einem animalischen Laut spritze sie sich das Blut aus der Zylinderampulle.
Nicht schon wieder...war alles, was Al denken konnte. Ich dreh durch. Ich werde wahnsinnig. Er schloss seine Augen und zählte innerlich von 10 abwärts. In einem Artikel hatte er gelesen, dass das gegen Panikattacken half.

Er würde blinzeln und alles würde wieder normal sein. Al zögerte eine Millisekunde. Dann blinzelte er. Die Schwester war weg. Auch das Blut. Er starrte auf seinen Arm. Das Pflaster war noch da.
Nervös tastete Al nach seinen Zigaretten.

Die schwarze Schachtel befand sich noch immer in seiner Jacke im Krankenzimmer. Also würde er zurück gehen müssen, um sie zu holen.
Währen er von der Pritsche aufstand, zitterten seine Hände leicht. Al ignorierte es und verließ ohne zurück zu blicken den Raum.

Eine Wolke weißer, feiner Nebel umschwirrte sein bleiches Gesicht Gesicht, hüllte Al in ein vertrautes, warmes Gefühl. Er stand auf dem Balkon eines Aufenthaltraumes im Stationstrakt und sah auf die andere Seite der Straße, dort wo sich das Bürogebäude befand.

Für einige Sekunden fühlte er eine leichte Klarheit seinen Kopf durchfluten und er wusste blitzartig, was zu tun war.
Ohne die Zigarette zuende zu rauchen hastete er los, in den Flur und stürzte an die Rezeption.
Die Schwester hinter der Theke zuckte zusammen und warf ihm einen übermüdeten, genervten Blick zu. ,,Ich muss sofort die Polizei sprechen. Bitte, ein Telefon." Die Schwester schüttelte den Kopf.
,,Beruhigen Sie sich erstmal und erklären Sie mir, was los ist." ,, Meine Schwester....sie wurde entführt."
,,Hat Ihre Schwester auch einen Namen?" ,,Ja. Roja Vale. Und...ich habe einen Mord beobachtet. Sagt man das so? Oder....einen Totschlag. Dieses Mädchen....mit der Straßenbahn. Das lief doch in den Nachrichten."

Auf einmal bereute Al, etwas gesagt zu haben. Die Schwester starrte ihn an.
,,Welches Mädchen? Und welche Straßenbahn?" ,,Das...das war Linie 21. In die Innenstadt. An der Polizei vorbei..." Er begann zu schwitzen. Alle hatten es doch gesehen. Es waren doch Passanten dabei gewesen.

,,Mhm." machte die Schwester und die Art, wie sie auf ihren Bildschirm schulte, verhieß nichts gutes. ,,Sie sind noch Patient bei uns?" ,, Ähm...ja." Al hatte es plötzlich sehr eilig das Gespräch zu beenden. Sein Blick fiel auf den kleinen, weißen Wecker, der auf dem Tresen auf einer kleinen Ablagefläche stand. 5:11 Uhr. Es war mitten in der Nacht! Wie konnte das sein?

,, Ich muss kurz...weg. Sorry." Al machte auf dem Absatz kehrt und überflog die Schilder  der Gänge in der Hoffnung, den Ausgang zu finden. ,,Moment, warten Sie noch kurz." murmelte die Schwester im freundlichen Ton. ,,Ich kann Ihnen die Nummer der Polizei aufschreiben."
Es war ein Spiel. Er spürte das. Sie wollte ihn aufhalten, damit er nicht verschwand.
Alles in seinem Kopf schrie, dass er sich irrte. Aber das ungute Gefühl in seinem Bauch belehrte ihn eines Besseren. Ohne zu zögern sprintete er los, blindlinks Richtung Fahrstuhl. Wo ein Fahrstuhl war, musste es auch ein Treppenhaus geben. ,,Hey! Warten Sie!" rief die Schwester ihm hinterher und sein Puls schoss in die Höhe. Al glaubte, nie in seinem Leben schneller gerannt zu sein. Die Menschen auf den Gängen machten ihm erschrocken Platz.

Mit Schwung prallte Al gegen eine graue, schwere Tür, deren Klinke er mehr herunter riss, als dass er sie drückte. Ein muffiges, spärlich beleuchtetes Treppenhaus begrüßte ihn. Er sprang auf die Treppe ohne nachzudenken und warf keinen Blick zurück bis er einen Absatz mit einer Glastür erreicht hatte, die nach draußen führte.

Erst als er im trüben Morgenlicht auf dem großen Parkplatz des Krankenhauses stand, wurde ihm bewusst, dass er noch immer die Krankenhausbekleidung trug. Ein kurzärmliges, blaues Hemd und eine Hose, beides aus so dünnem Stoff, dass  er erbärmlich fror.

Sein Handy, seine Schlüssel, Brieftasche, Kleidung- alles war noch in dem Krankenzimmer. Er fluchte.
Einfach zurückgehen konnte er nicht. Was wäre, wenn sie nur darauf warteten? Oder hatte er sich getäuscht? War diese Schwester real? War der Unfall keiner gewesen?

Al gab ein verzweifeltes, leises Seufzen von sich. Er verlor die Kontrolle über sein Bewusstsein. Vielleicht war das alles nur ein abgefuckter Traum nach einem Kneipenabend mit James. Und alles, was er tun musste, war aufzuwachen.
,,Wach auf! Los!" schrie er wütend und schlug sich mit der Hand ins Gesicht. Nichts passierte.
,,Ist alles okay bei Ihnen? Oder kann man Ihnen helfen? Sie sehen aus, als ob Sie frieren."

Erschrocken fuhr Al herum. Hinter ihm stand ein Mann im Anzug. Al schätze ihn auf Mitte 50. Er lächelte und zog eine Packung Zigaretten aus seinem Jackett. ,,Rauchen Sie?" Al nickte. Der Mann hielt ihm die Packung hin und Al bedankte sich. ,,Sind Sie hier Patient?"
Der Unbekannte zog an seiner Zigarette während er auf eine Antwort wartete. ,,War. Ich hab nur... meine Sachen vergessen." nuschelte Al und spürte dass er rot wurde.
Was für einen peinlichen Aufzug musste er abgeben...
,, Entschuldigung, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Prescott ist mein Name. Tom Prescott."
Al bließ den weißen, feinen Dampf seiner Zigarette in die kühle, klare Morgenluft und ließ seine Augen hektisch über Toms Jackett gleiten.

Prescott.
Der Name kam ihm bekannt vor.
Aber er konnte sich nicht erinnern, woher.

Mariahs LammWo Geschichten leben. Entdecke jetzt