Die Firma

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,,Wo arbeiten Sie?"
Tom wirkte ruhig und ernst.
Auch, wenn die Umstände ungewöhnlich waren, vermittelte er ein starkes Gefühl von Sicherheit, das Al schon nach wenigen Minuten Gespräch innerlich entspannen ließ.

Er wollte sich vor Tom nicht blamieren- allein der Anzug schüchterte ihn ein. Das musste ein Felthener sein. Al erkannte es an den kleinen, grauen Flügeln, die auf der Brusttasche des Jacketts angestickt waren.
Die Marke wurde öfter in großen Büros der Oberschicht getragen. Allein ein komplettes Set kostete ca um die 3000€, exklusive die Maß-Anfertigung für die individuelle Körperform.

Nervös sah er an Tom vorbei. Egal, was er jetzt sagte, es würde nichts besser machen. ,,Ich...suche momentan." er räusperte sich leise. ,,Was haben Sie denn gelernt?" ,, Ich war in der Produktion bei einem Kühlbetrieb. Aber das ist lange her. Ich hab viel unterschiedliches gemacht. Mein letzter Job war Büroangestellter." Tom nickte.

,,Ich will Sie nicht überrumpeln, aber haben Sie vielleicht Lust, mich ins Büro zu begleiten? Ich suche noch Unterstützung für den Schriftverkehr in meinem Unternehmen.
Um Ihre Sachen können wir uns im Anschluss kümmern."
Al blinzelte ungläubig. Das muss ein Traum sein, dachte er. Niemand würde jemandem wie ihm einfach so einen Job anbieten.

In seiner Magengegend regte sich Misstrauen. Was, wenn er sich das wieder nur einbildete?
Ein Schwall Hitze kroch seinen Rücken empor und er spürte, wie sich feine Schweißtropfen ihren Weg über die Haut an seiner Wirbelsäule bahnten.
Vielleicht war es besser, zurück ins Krankenhaus zu gehen und sich direkt selbst einzuweisen.

,,Wie heißen Sie?" fragte Tom, als hätte er Al's Gedanken gelesen und wolle verhindern, dass er wieder im Gebäude verschwand.
,, Entschuldigen Sie....Alan...Alan Vale."
Tom's Augen wurden groß. ,,Vale? Kennen Sie zufällig eine Roja Vale?"
Hitze schoss durch Al's Körper. Roja. Er war auf dem Weg zur Polizei gewesen...
Ein Gefühl von Panik überkam ihn. ,,Ja, ich...sie ist meine Schwester. Ich muss zur Polizei. Sie ist verschwunden." ,,Ich fahr Sie." bot Tom postwendend an.
Dankbar lächelte Al.

Ein gequältes Seufzen verließ Al's Kehle, als er die durchsichtige Eingangstür des Präsidiums hinter sich zufallen ließ. Viel Hoffnung hatte ihm die Polizei nicht gemacht.
Frühestens nach 48h würden sie eine Vermissten-Meldung heraus geben, auch wenn er immer wieder eindrücklich gesagt hatte, dass seine Schwester nicht einfach ohne Nachricht verschwand.

Tom wartete im Wagen, als er Al die breite Eingangstreppe herunter kommen sah. Er lehnte sich über den Beifahrersitz und öffnete ihm die Autotür. ,,Und?"
,,Sie geben erst nach 48 Stunden eine Meldung heraus." Al beugte sich runter und stieg unbeholfen in den Wagen.
,,Aber es sind doch bereits 48 h vergangen." Tom schüttelte den Kopf, während er den Motor startete. ,, Wenn Sie bei der Suche Hilfe brauchen..." Er machte eine betretene Pause. ,,Dann sagen Sie Bescheid, in Ordnung?"
Al wusste nicht, was er sagen sollte, darum nickte er nur und drehte sein Gesicht zum Autofenster.

Die Fahrt zum Büro dauerte nicht lang. X-Ron befand sich in einem imposant-modernen Gebäude, viel größer und höher, als auf den Fotos, die Roja ihm gezeigt hatte.
In der Mitte der glatten bläulich- glänzenden Fensterfront war sowas wie ein spitz-zulaufender Turm mit einem gewaltigen LED-Schild in Form eines X.
,,Da wären wir." murmelte Tom und parkte den Wagen vor einem überdachten Glasgang.

Al öffnete die Autotür mit einem Klacken und stieg mit zitternden Beinen aus dem Wagen. Wie lang war es her, seit er etwas gegessen hatte?
Tom warf ihm einen aufmerksamen Blick zu. ,,Sie sehen blass aus. Wollen Sie sich kurz setzen?"
Er griff in die Seitentasche seines Jacketts und bot Al erneut eine Zigarette an.
Al setzte sich auf eine der beiden hüfthohen Mauern, die links und rechts vom Eingang den Betongehweg von einer kleinen Grünfläche trennten. Ein stechender Schmerz schoss in seine Stirn und er presste seine rechte Hand gegen seine Schläfe, während er mit der linken die brennende Zigarette hielt.

Tom blieb unschlüssig vor ihm stehen. ,,Ich versuche, Ihnen ein bisschen Wasser zu organisieren. Gegessen haben Sie bestimmt auch noch nichts oder? Wir haben einen Bäcker hier um die Ecke..." Er hielt inne und starrte in das Innere des Gebäudes. ,, Entschuldigen Sie mich kurz. Nicht weggelaufen, ich bin gleich wieder da."

Zusammengekrümmt blieb Al auf der Mauer sitzen und spürte eine Welle Übelkeit, die sich in seinem Bauch nach oben schob. Er hatte das Gefühl, jeden Augenblick brechen zu müssen. Verzweifelt wehrte er sich dagegen. Wie würde es aussehen, wenn er dem Chef seiner Schwester vor den Haupteingang kotzte.

,,Tag."
Er hatte es kaum gehört. Es war nicht viel mehr als ein leiser Gruß, eher beiläufig. Trotzdem blinzelte Al, um zu sehen, wer sich zu ihm an den Eingang gesellte. Tom konnte es nicht sein. Er hätte ihn nicht mehr gegrüßt.

Zuerst fielen ihm die dunkelbraunen Lederstiefel auf, nicht ganz bis oben zugeschnürt, sodass es lässig wirkte.
Der Rest der Kleidung war eher elegant.
Die dunkelgraue Anzughose und das schwarze Hemd hoben die sportliche, breit gebaute Figur des Mannes hervor.
Blonde, kurze Haare mit einem Undercut betonten das kantige, junge Gesicht.
,,Na, auch Pause?"

Al war überhaupt nicht zum Reden zu Mute.
Die Übelkeit wurde schlimmer und er war sich sicher, dass er brechen musste, wenn er auch nur zum Reden ansetzte.
Er schüttelte stumm den Kopf und seine Hand, die noch immer an seiner Stirn lag, begann zu zittern.
Würgend hustete er, während er all seine mentale Kraft sammelte und immer wieder dachte: Nicht kotzen. Du darfst nicht kotzen.

Stoff raschelte vor seinem Gesicht und als er blinzelte, sah er den blondhaarigen Mann direkt vor ihm am Boden hocken. Seine Augen hatten ein intensives Orange-braun.
,,Ist dir schlecht? Du siehst leichenblass aus."

Irgendetwas störte Al an seinem Gesicht. Es war wie ein dumpfes, weit entferntes Gefühl, das er nicht einordnen konnte. Vielleicht war es allerdings auch die Übelkeit.
Langsam, sehr langsam nickte Al. ,,Komm. Leg dich erstmal hin." Der Mann umfasste seine Knöchel und hob seine Beine hoch auf die kleine Mauer.

Die Hände des Mannes waren eiskalt. So kalt, dass Al es durch den Stoff auf der Haut spüren konnte. Ihn fröstelte.
,,Alles okay?" hörte er Toms Stimme.
Eine eiserne Stille folgte, nur wenige Sekunden zu lang, sodass Al blinzelte, um zu sehen, was los war.
Toms Gesichtsausdruck war zu einer finsteren Grimasse verzerrt. Er und der junge Mann standen sich wie zwei Wölfe gegenüber. Eine bedrohliche Spannung lag in der Luft. ,,Ich wollte nur helfen." Der junge Mann trat beschwichtigend einige Schritte zurück.

,, Kümmer dich um deinen Job, Tobias." knurrte Tom. ,,Aha. Und du hast jetzt auf einmal deine soziale Ader entdeckt? Steht dir, so viel Väterlichkeit."
,,Ich warne dich." ,,Vor der Wahrheit? Amüsant." ,,Halt deinen verdammten Mund!" brüllte Tom voller Wut. ,,Dann hör endlich auf so zu tun, als wäre ich nicht dein Sohn!" brüllte Tobias zurück.

Ein lautes Zischen durchbrach die aufgeheizte Atmosphäre und Al versuchte, seine Augen zu öffnen. Doch im selben Augenblick, indem er verschwommen die Silhouetten der beiden Männer ausmachte, spürte er ein unerträgliches Brennen in seiner Kehle, das blitzartig seinen Rachen empor kroch.

Er erbrach eine nasse Substanz, die über sein Kinn, seinen Hals entlang, bis zum Stoffrand seines Oberteils floss.
,,Oh Gott." hörte er eine Stimme gedämpft und weit entfernt rufen, bevor sich eine kalte, endlose Schwärze wie eine erbarmungslose Faust geballt um sein Bewusstsein schloss...

Mariahs LammWo Geschichten leben. Entdecke jetzt