Ein schrilles Piepen riss Al aus dem schwarzen Nichts und noch bevor er die Augen aufgeschlagen hatte, glaubte er fest daran, dass er auf der Couch in seinem Appartement lag und mindestens fünf verpasste Anrufe von Roja auf seinem Telefon vorfinden würde.
,, Kannst du auftreten?" hörte er eine Stimme im Hintergrund. Jemand antwortete, aber so leise, dass er die Worte nicht verstehen konnte. Hatte er den Fernseher angelassen? Was sollte das für eine Sendung sein?
Al blinzelte und grelles, kaltes Licht blendete ihn.
Mit einem Ruck saß er aufrecht. Das Zimmer, in dem er sich befand, war komplett weiß gestrichen und wirkte sehr steril. Links neben ihm stand ein Krankenhausbett, auf dessen Bettkante ein ca zwölf-jähriger Junge mit dunkelbraunem, lockigem Haar saß. Eine blonde Krankenschwester stand neben ihm und nickte ihm aufmunternd zu. ,,Einfach kurz probieren." Mit zitternden Händen stütze der Junge sich auf der Bettkante ab und versuchte, sich hoch zu stemmen. Mit einem schmerz- verzerrten Schrei kippte er zurück und begann zu weinen. ,,Okay, okay. Du machst das gut, Cody. Ganz ruhig."Gerade, als die Krankenschwester sich herunter beugte, um das Bein zu untersuchen, drehte Cody seinen Kopf ruckartig zu Al. Ein eisiger Blitz durchzuckte Al's Körper. Die Augen des Jungen waren blutunterlaufen und er fixiere Al mit einem Blick, der ihn tief bis ins Innerste seiner nackten Seele traf. Dann riss er den Mund auf, aus dem sich Zentimeter für Zentimeter etwas Schwarzes, Spitzes empor schob. Al konnte den Blick nicht abwenden.
Er starrte entsetzt auf das Ding, das den Jungen von innen nach außen zu durchbohrte. Das schwarze Etwas glänzte matt im kühlen Licht der Zimmerlampen, während es den schmalen Körper langsam an den Mundwinkeln aufriss. Al brauchte einige Sekunden, bis er an der Musterung der Oberfläche erkennen konnte, dass es sich um ein Horn handelte. Er wollte etwas schreien, wollte panisch nach der Krankenschwester winken, doch es war, als würde sich eine eisige Klaue um seinen Körper legen und seine Arme fest an seine Taille pressen.
Die Haut an den Mundwinkeln des Jungen riss mit einem nassen Zischen und dunkelrotes Blut strömte über sein Kinn. Das Horn schien länger und immer breiter zu werden und als Al das Knacken eines Knochen hörte, schrie er wie ein kleiner Junge. Eine Hand packte ihn am Arm und rüttelte ihn unsanft. ,,Ruhig. Ganz ruhig. Können Sie mich hören? Hallo? Hören Sie mich?"
Das Gefühl, keine Luft zu bekommen, katapultierte Al in einen Hustenanfall, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Als er wieder klar sehen konnte, starrte der Junge auf dem Nachbarbett ihn mit großen Augen an. Seine Mundwinkel waren völlig normal und das Blut war spurlos verschwunden.
Die Krankenschwester stand dicht vor Al's Bett und hatte die Stirn besorgt in Falten gelegt. ,,Hallo? Alan Vale? Das ist Ihr Name oder?" Langsam nickte er.
,,Hören Sie, ich glaube, Sie hatten eine Panikattacke. Sowas ist nicht ungewöhnlich, wenn man Zeuge eines schrecklichen Unfalls wurde. Das Gehirn versucht, die Ereignisse einzuordnen."
,,Unfall?" Al brauchte einen Moment, um sich zu erinnern. ,,D...das war kein Unfall."
,,Am besten, Sie schildern der Polizei, was Sie beobachtet haben. Wir haben auch ein Patiententelefon. Das können Sie benutzen." Die Krankenschwester wollte gerade noch etwas hinzufügen, da ging die Zimmertür auf und eine Frau mit einem kleinen Essenwagen kam herein.Al verspürte keinen Hunger. Seine Kehle war noch immer wie zugeschnürt von dem verstörenden Bild, das sich lebhaft in sein Gehirn gebrannt hatte. Der Junge im Bett neben ihm beäugte ihn verunsichert, während er aß.
Ich muss hier raus. Ich muss zu Roja.
Al konnte nicht aufhören, an sie zu denken. Es fühlte sich an, als würde ihm alle paar Sekunden siedend heiß wieder einfallen, was mit ihr passiert war.
Wie ein Versager hing er in diesem beschissenen weißen Bett. Wieder und wieder hörte er die verächtliche Stimme seines Vaters, wie ein gefährlich-leises Brodeln in seinem Kopf.
Mit einem zischenden Atemzug versuchte er sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren und begutachtete die dunkelbraunen Brotscheiben, die vor ihm, auf einem kleinen Beistelltisch auf einem weißen Teller lagen.Es war bereits dunkel geworden und durch die großen Fenster des Krankenzimmers konnte man draußen auf der anderen Seite der Straße in einem mehrstöckigen Bürohaus vereinzelt beleuchtete Fenster sehen. Al hatte sich im Bett aufgesetzt und den Teller mit dem Essen unberührt zur Seite geschoben. Stattdessen suchte er mit seinem Handy im Internet fieberhaft nach Rojas Profilen. Er war sich ziemlich sicher, dass sie welche angelegt hatte und er hoffte, dort Hinweise darauf zu finden, dass der Gedanke an eine Entführung einfach nur ein riesiger Irrtum war. Gerade als er ein Bild von ihr und einer Arbeitskollegin auf Pintagram gefunden hatte, klopfte es an der Zimmertür.
Eine Schwester im weißen Kittel trat ein und als er seinen Kopf hob, wurde ihm schlagartig heiß und kalt zugleich.
Er erkannte ihr Gesicht auf der Stelle. Auch die Frisur mit dem Pony, der sie jung und beinah kindlich wirken ließ.Al fühlte sich, als würde er vom Blitz getroffen werden, als sie ihn musterte und schnurstracks an sein Bett trat. Schwarze Haarsträhnen fielen ihr über die Stirn auf die Wangen und als sie sich ein Stück zu ihm herunter beugte, war Al sich sicher, noch nie in seinem Leben ein schwärzeres Paar Augen gesehen zu haben.
,,Hi. Wie geht's?"Ihre Stimme klang genauso, wie er sie sich vorgestellt hatte. Fast einen Touch zu lässig und zu erwachsen. ,,Das...das ist unmöglich." stammelte Al. ,,Ich hab dich gesehen. Du...du warst..."
,,Sind wir schon beim Du?" fragte sie und grinste. Verwirrt schüttelte Al den Kopf. ,, Entschuldige..." murmelte er. ,,A-aber dieser Unfall..."
Wie konnte das sein?
Wie konnte sie hier vor ihm stehen?
Er hatte es doch gesehen.Das Mädchen blinzelte. ,,Unfall? Ach, Sie meinen, wegen der Straßenbahn. Schrecklich, was da passiert ist." ,,Ich...i-ich..." Al sprach nicht weiter. Er fühlte sich schrecklich verwirrt.
Sein Blick fiel auf den weiße Arbeitskleidung, die das Mädchen trug. Auf einem Schild an der linken Schulter stand Schwester M. Ablon.
Der Name sagte ihm nichts.Aber ihm fiel die Kette auf, die sich um ihren Hals schlängelte und deren Anhänger sich unter den Schichten ihrer Kleidung zu verstecken schien.
,,Ich will den regen Fluss Ihrer Gedanken ja nicht stören, aber Sie müssten mich noch einmal zur Blutabnahme begleiten." Schwester Ablon legte eine Hand auf Al's Bettdecke und als er merkte, dass er sie mehr als unverhohlen gemustert hatte, spürte er, wie die Hitze in sein Gesicht schoss.
Peinlich berührt wandte er seinen Blick ab und nickte stumm.Auf dem Krankenhausgang herrschte reges Treiben. Al spürte ein dumpfes Rauschen in seinem Kopf, während er versuchte, dem hektisch hin und herlaufenden Pflegepersonal auszuweichen, während er der Krankenschwester hinterher lief.
Vor einer geschlossenen, weißen Tür blieben sie schließlich stehen. Schwester Ablon klopfte kurz und als sich niemand meldete, öffnete sie die Tür zu einem Behandlungszimmer mit einer Reihe von Schränken, in denen sich Medikamente befanden. In der Mitte des Raumes stand eine ausladend große Behandlungsliege mit einem hellblauen Polster. Ohne ein Wort wies sie Al an, sich auf die Liege zu setzten, während sie in den Schränken nach Material suchte.
Dabei summte sie gedankenverloren eine Melodie, die er nicht identifizieren konnte.Während er sie beobachtete, breitete sich ein seltsames Gefühl in ihm aus.
Es war eine Mischung aus Angst und Sympathie. Er konnte es nicht genauer definieren. Sie hatte eine hübsche Figur, leichte Kurven und eine selbstsichere Haltung, die Ihr eine gewisse Dominanz verlieh. Al blinzelte verlegen, als sie sich umdrehte und ihn mit ihren Blicken erwischte.Sie hob das Kinn wissend, kam mit einigen Materialien in der Hand auf ihn zu und legte sie neben ihm auf die Liegefläche. Al hielt den Atem an, als sie sich seinem Gesicht entgegen streckte und leise raunte. ,,Ich muss dich um etwas bitten, Alan. Du darfst der Polizei nichts erzählen."
Al spürte die Hitze, die in ihm aufstieg, während er auf ihre Lippen starrte und sich mit aller Gewalt versuchte, zu konzentrieren.
,, Hörst du mich?" hauchte die Schwester. ,,Du darfst kein Wort sagen. Sonst wird etwas sehr schlimmes passieren..."___________________________________________
Huhu,
ich mal wieder.
Für dieses Kapitel hab ich gefühlt eine halbe Ewigkeit gebraucht.
Ich habe den Eindruck, Al gerade auch zum ersten Mal kennenzulernen und ich kann ihn als Charakter immernoch nicht richtig fassen.
Aber ich freue mich über jeden einzelnen Leser, der diese Geschichte verfolgt. Also ein dickes großes Danke an dieser Stelle.*_*
Lasst mir gern Kommentare da, was ihr über die Figuren denkt oder welche Handlungen euch vielleicht verwirrt, interessiert oder inspiriert haben. Ich freue mich über Feedback wie über jedes Adventskalender-Türchen xD (ich hoffe ihr habt auch einen :)
Bis dahin
XSaschax
DU LIEST GERADE
Mariahs Lamm
Mystery / Thriller,,Das...das ist falsch." raunte Al verzweifelt, aber sehr, sehr leise. Er ignorierte es. Genauso, wie er ignorierte, welche Konsequenzen es haben würde, wenn er diese letzte Grenze überschritt. ,,Sie darf es niemals wissen." flüsterte er. Alle 600 J...