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Die Straßenbahn war voll und ein muffiger Gestank schlug Al entgegen, als er durch die Einstiegstüren in den schmalen , grell-beleuchteten Gang trat. Überfordert von dem lärmenden Geräuschpegel, der die Gesprächsfetzen zu einer bunten Overtüre mischte, schloss er kurz seine Augen und schüttelte leicht den Kopf.

Er bereute es, den deutlich kürzeren Weg zur nächsten, größeren Polizeiwache genommen zu haben. Er hätte zu Fuß laufen sollen.
In dem Augenblick, in dem er sich dazu entschloss, bei der übernächsten Haltestelle auszusteigen, um dem Wirrwarr aus Eindrücken zu entkommen, fiel sein Blick auf ein junges Mädchen, das den Kopf an die Scheibe gelehnt, lässig neben einer älteren Frau mit Sonnenbrille und Tragetasche auf einem der Sitzplätze saß.

Sie konnte kaum älter als 18 sein. Ihre dünnen, bleichen Arme steckten in den übergroßen Ärmeln eines schwarzen Parkas, der ihr bis zu den Knien reichte. Darunter trug sie eine weiße Bluse, schwarze Jeans und klobige, schwarze Turnschuhe. Ihr Gesicht war markant mit großen, eckig geformten Augenbrauen und ausgeprägten Kiefermuskeln.

Der schwarze, halblange Bob fiel ihr in glatten Strähnen bis auf die Schultern.
Ihr Blick traf ihn unvorbereitet und sie sah nicht überrascht aus, dass er sie ansah. Beinah gelangweilt und trotzig zugleich hob sie eine Augenbraue, sodass Al seine Augen flüchtig abwandte.
Sie war hübsch, aber irgendetwas an ihr wirkte unecht. Er konnte nur nicht sagen, was es war.

Al suchte ihre Spiegelung in einer der Fensterscheiben, um sie unauffällig beobachten zu können, da wurde es laut um ihn herum. Eine Gruppe jüngerer Männer bahnte sich witzelnd ihren Weg durch die Sitzreihen.
Sie verströmen eine unheilvolle Energie und als sich einer von ihnen suchend umsah und sein Blick einige Sekunden später auf das Mädchen fiel, spürte Al, wie ihm sprichwörtlich das Blut in den Adern gefror.

Noch bevor die Jungs sich um sie geschart hatten, war ihm klar, dass sie sie nicht kannten und auch nicht vor hatten, sie nett nach dem Wetter oder den neuesten Trends auf TikTok zu fragen.

Das Mädchen hob den Kopf und starrte herausfordern in die Gesichter der Gruppe, so als wollte sie die Jungs provozieren. Wütend beugte sich eines der Gruppenmitglieder zu ihr herunter und sagte etwas ihr. Al konnte es nicht verstehen, er saß zu weit weg.
Mit geballten Fäusten sprang das Mädchen auf und sorgte damit dafür, dass einige der Fahrgäste sich erschrocken zu ihr umdrehten.
Just in dem Augenblick, in dem sich ein Mann mittleren Alters zielstrebig auf die Gruppe zubewegte und noch im Gehen ansetzte, etwas zu sagen, wurde die Bahn mit einem Ruckeln langsamer, um die nächste Haltestelle zu passieren.

Die Gruppe war so schnell ausgestiegen, dass keiner der umstehenden Personen zu realisieren schien, dass das Mädchen ebenfalls verschwunden war.
Der Mann, der sich soeben noch hatte einmischen wollen, brummte etwas unverständliches und ließ sich auf einen der frei gewordenen Sitzplätze fallen.

Al's Herz klopfte so heftig, dass er befürchtete, es würde ihm aus der Brust springen, während er fieberhaft überlegte, ob er der Gruppe folgen sollte.
Er hatte das Gefühl, seine Schwester zu sehen, die einer Gruppe wie dieser hilflos ausgeliefert war und wenn er nichts tat, würde sie sterben.

Blindlinks quetschte er sich durch die bereits zufallenden Straßenbahn-Türen und blickte hektisch nach links und rechts.

Die Jungs hatten das Mädchen eingekreist und es war schwer, zwischen ihrem dichten Körperkreis etwas zu erkennen. Einige weitere Passanten auf dem Bahnsteig reckten die Köpfe, aber der Wall aus Jacken und Hosenbeinen brach nicht auf.

Irgendjemand rief etwas quer über den Bahnsteig, als zwei Jungs sich aus dem Kreis lösten und einige Schritte Richtung Bahngleise traten. In ihrer Mitte mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck hing das Mädchen. Al ballte die Fäuste, aber Angst kroch in seinem Nacken hoch und schien ihn zu lähmen.
Erbärmlich! ertönte die Stimme seines Vaters in seinem Kopf. Warum hilfst du ihr nicht? Du Versager. Ich schäme mich für dich.

Mit bitterer Miene ließ er die Fäuste sinken und sah zu, wie die Jungs das Mädchen, das sich verzweifelt wehrte, näher und näher an die Gleisen schoben. Einige Passanten telefonierten hektisch und zwei dunkelhäutige Männer kamen entschlossenen Schrittes auf die Gruppe zu.

Noch bevor irgendjemand reagieren konnte, wurden die Lichter der nächsten Straßenbahn sichtbar.
Al spürte seine Beine zittern, während er fassungslos beobachtete, wie die Jungs das Mädchen auf die Gleise vor die Bahn schubsten.
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Al zu sehen, wie sie sich zu ihm umdrehte und ihn mit einem finsteren Lächeln bedachte, bevor ihr Kopf mit einem knirschenden Geräusch unter den ratterndern Rädern der Bahn verschwand.

Wie in Trance hörte Al die Menschen links und rechts von ihm erschrocken aufschreien.
Er starrte auf die Stelle, an der ihr Körper verschwunden war und sah wie durch einen Nebel, wie die Bahn mit einem ohrenbetäubenden Kreischen zum Stehen kam. Einige der Passanten hatten ihre Handys in die Luft gehoben und filmten die verstörende Szene. Die Täter waren längst verschwunden.

Al spürte einen Kloß in seinem Hals und sein Mund schien von jetzt auf gleich völlig ausgetrocknet zu sein. Er hatte das schreckliche Gefühl, Schuld an dem grausamen Zwischenfall zu sein. In seinem Kopf tobten wüste Gespinste, die nicht das fremde Mädchen, sondern seine Schwester unter der Bahn verschwinden ließen. Sie lächelte, während ihr Körper von den schweren Rädern zermalmt wurde.

Al schüttelte den Kopf, während ihm Tränen in die Augen schossen. Das war zu viel. Das war einfach zu viel. Verwirrt tastete er nach seinem Gesicht. Das Klingeln eines Handys drängte sich beinah wütend an sein Ohr, durchkroch den dichten Nebel in seinem Kopf und rüttelte an seinem Bewusstsein. War das sein Handy?

Mit schlaffen Armen versuchte er sich zu erinnern, in welche Tasche er das Telefon gesteckt hatte. Aber noch ehe seine Finger die Jackentaschen erreicht hatten, zog sich ein dunkler Vorhang vor Als Sichtfeld. Er spürte, dass er den Halt verlor und zur Seite kippte, dann verlor er das Bewusstsein...

Mariahs LammWo Geschichten leben. Entdecke jetzt