0II

9 2 2
                                    

Roja riss die Augen auf. Sie fühlte sich noch immer wie gelähmt von dem schrecklichen Albtraum, der ihr düster und bedrohlich erschütternd nachhallte.

Sie blinzelte suchend der Decke ihres vertrauten Apartments entgegen und runzelte für einen kurzen Moment die Stirn. Hatte sie die Wohnung nicht vorm Einzug renovieren lassen? Warum war die Decke kahl und grau? Voller Entsetzten setzte sie sich auf. Das hier war nicht ihre Wohnung!

Ein Gefühl der Verzweiflung versuchte ihre Gedanken zu ertränken, doch sie schob es eisern beiseite. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren. So, wie sie es im Büro immer tat, wenn die Situation anfing zu kippen. Deswegen war sie weit gekommen mit ihrer Karriere.

Roja blickte an sich herab. Sie trug noch immer ihr Bürokostüm mit der weißen Bluse und dem hellgrauen Bleistiftrock, der von schwarzen Schmutzflecken übersät war. An ihren Fußknöcheln waren zwei Ringe mit schweren Eisenketten befestigt. Wütend griff sie danach und fuhr ungeduldig über die glatten Oberfläche.

Wer zum Teufel war verantwortlich dafür? War das ein schlechter Scherz? Ein Streich einiger durchgeknallter Kollegen? Niemand aus dem Büro würde zu so etwas fähig sein. Es sei denn...sie hatte etwas übersehen. Vielleicht jemanden verärgert?

Ein Ex-Freund? Ein wütender Konkurrent? Ein verärgerter Geschäftspartner?

Roja zog ihre Beine an ihren Körper und sah sich erneut im Raum um. Es gab ein mittelgroßes, vergittertes Fenster und eine massive, verrostete Eisentür.

Einen Augenblick lang überlegte sie, ob es sinnvoll war, um Hilfe zu rufen. Aber sie könnte überall untergebracht worden sein. Und dieser jemand, der sie entführt hatte, war nicht planlos vorgegangen. Roja kniff die Augen zusammen und es schien ihr wie ein Traum, als sie an den Morgen zurück dachte.

Sie war in den Fahrstuhl gestiegen und zum 15 Stock hochgefahren, um dem Chef einige Unterlagen auf den Tisch zu legen. Doch soweit war sie gar nicht erst gekommen. Bereits an der Tür hatte ihr jemand mit voller Wucht gegen den Kopf geschlagen. Noch ehe sie den Blick heben konnte, um ihrem Angreifer ins Gesicht zu schauen, war ihr schwarz vor Augen geworden.

Ein klammes Gefühl der Angst überkam sie wie aus dem Nichts. Sie wusste weder wer ihr Entführer war, noch was er von ihr wollte. Es gab unzählige, grausame Geschichten von entführten, jungen Frauen.

Mit einem hilflosen Wimmern griff Roja nach den Ketten an ihren Knöcheln und obwohl sie wusste, dass es aussichtslos war, keimte in ihr der unerbittliche Wunsch auf, zu versuchen, das Eisen an irgendeiner Stelle zu lösen.

Mit einem winzigen Funken Hoffnung suchte sie den Boden um sich herum nach Gegenständen ab. Ein Nagel, ein Stück Holz- irgendetwas.
Es musste etwas geben.

Genau in diesem Augenblick wurde ein Pfeifen auf der anderen Seite der Tür laut und jemand drehte einen Schlüssel im Schloss herum. ,,Aah, die Prinzessin ist aufgewacht."

Ein Mann im Anzug betrat den Raum. Sein Kopf steckte in einer weißen Sturmhaube, die wie ein Clownsgesicht angemalt war. Hinter ihm kam noch ein etwas kleinerer Mann, ebenfalls mit Sturmhaube und Anzug bekleidet, durch die Tür. ,,Was wollt ihr?" flüsterte Roja erschrocken und spürte, wie ihr etwas Warmes an den Beinen herunterlief. Der Größere der beiden Männer hielt kurz inne und drehte den Kopf. ,,Riechst du das, Dennis?" Er beugte sich herunter. ,,Sie hat sich eingemacht und wir haben noch nicht mal angefangen." Roja zitterte am ganzen Körper. ,,Bitte, was....was...wollt ihr?"

,,Also erstmal....wollen wir uns vorstellen. Ich bin Zane und das ist Dennis. Du fragst dich bestimmt, warum du hier bist..." Zane machte eine Pause und atmete geräuschvoll aus. ,,Du bist nützlich und hattest Pech. Ich weiß, das ist vielleicht nicht, was du hören wolltest, aber so ist es leider." Er richtete sich wieder auf und trat dichter an Roja heran. ,,Ein kleiner Bonus für uns ist, dass du so hübsch bist. Aber ich denke, das weißt du selbst."
Roja schüttelte den Kopf und Tränen schossen ihr in die Augen. ,,Nein, bitte....bitte tut mir nicht weh. Ich....ich verspreche, ich werde euch nicht verraten. Sagt mir nur was ihr wollt. Bitte!"

Zane schwieg und trat mit den Füßen auf der Stelle. ,, Weißt du, ich überlege noch. Es fällt mir so schwer, mir vorzustellen, was wir von dir wollen könnten..."

Roja biss die Zähne zusammen, so fest, dass es weh tat. Eine Welle Panik nach der anderen brach über sie herein und sie kämpfte um ihre Fassung. ,,Bitte." sagte sie leise. ,,Sagt mir, was ihr wollt."

,,Dir fällt dazu wirklich nichts ein, mh?" Zanes Stimme klang verächtlich. ,,Dein Glück- ich hab heute einen guten Tag. Also geb ich dir einen Aufschub, um dir zu überlegen, welche gravierenden Fehler du in letzter Zeit gemacht hast. Es liegt ganz bei dir, was als nächstes passiert."

Zane drehte sich zur Tür und bedeutete Dennis, ihm zu folgen. Als das Schloss mit einem dumpfen Geräusch zufiel, sackte Roja in sich zusammen und schrie lautlos.

Es hätte jede andere Frau gewesen sein können. Jede andere. Aber sie saß hier, schwere Ketten an ihren Knöcheln, in einem Drecksloch mit zwei Kerlen, die...
Sie dachte den Gedanken nicht zuende.

Voller Sehnsucht stellte sie sich vor, wie sie im Büro, einen Kaffee mit Hafermilch und ihr Notebook in der Hand, zum nächsten Meeting eilen würde. Wie Toni, der Halbspanier mit der süßen, runden Nerdbrille ihr ein verlegenes Lächeln zuwerfen und sich dann schüchtern hinter seiner Dokumentenmappe verstecken würde.

Und sie dachte an Al, dem sie eine Nachricht geschickt hätte, um sich zu vergewissern, dass alles okay sei. Das hatte sie früher schon immer getan, als sie beide noch zur Schule gingen. Al war sehr still und zurückgezogen. Manchmal war er ein bisschen zu still.

Roja machte sich insgeheim Vorwürfe. Denn als Sie den Tod ihrer Eltern mit beruflichem Ehrgeiz verarbeitet hatte, war Al irgendwo zurück geblieben und sie hatten sich voneinander entfernt. Es kam ihr so vor, als wäre er noch immer nicht darüber hinweg gekommen und seine Art, zu leben wäre ein stummer Protest gegen die schmerzhaften Gefühle, die in seinem Inneren tobten.

Roja fühlte sich plötzlich um Jahre zurückgeworfen, als wäre sie wieder fünfzehn, voller Unsicherheit und Schamgefühl.
Ihr Rock war an manchen Stellen nass geworden und holte sie gnadenlos in die Gegenwart zurück.
Kraftlos wischte sie mit den Händen über den Stoff, eher um sich selbst zu beruhigen, als das sie versucht hätte, die Flecken trocken zu bekommen.

Der scharfe Geruch nach Ammoniak stieg in einer warmen, kleinen Wolke empor, umhüllte ihre Nase, sodass sie würgend nach Luft schnappte.
Eben noch hatte sie in ihrem Büro am Schreibtisch gestanden und jetzt war sie hier, saß in ihrem eigenen Dreck, mit schweren Ketten an die Wand gefesselt.
Was, in Gottes Namen, war passiert?

Mariahs LammWo Geschichten leben. Entdecke jetzt