Chapter Ten//Sprechhemmung

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Langsam ging ich die Treppenstufen runter. Dabei übersprang ich unbewusst die Stufen die knarrten. Ich wohnte mein gesamtes Leben schon in diesem Haus und kannte es in und auswendig. Ich könnte mit verbunden Augen durch dieses Haus laufen und würde mich ohne Probleme zurechtfinden.

Ich hörte meine Mutter in der Küche herum hantieren und ging zu ihr. "Mama?", fing ich das Gespräch an. "Können wir reden?" Sie drehte sich zu mir um. Ich konnte sehen, dass sie an dem Ausdruck in meinen Augen erkannte, dass es hier nicht nur um die Erklärung, wo ich meine gestrige Nacht verbracht hatte, ging. Sie nickte und setzte sich mir gegenüber an den Küchentisch.

In ihrem Blick konnte ich wieder diese typische mütterliche Fürsorge sehen. Ich konnte es nicht ertragen und senkte den Blick zu meinen Händen, mit denen ich nervös herum spielte.

"Mama, also weißt du...", begann ich, doch meine Stimme brach weg und ich musste mich räuspern. "Weißt du, i... ich... Mama, kannst du mir was versprechen?" Endlich hob ich den Blick und sah direkt in ihre Augen. Sie hatten den gleichen undefinierbaren blauton wie meine. Nur dass über ihren nun ein Schatten der Besorgnis lagen.

"Natürlich, alles", antwortete sie ohne zu zögern.

"Bitte hör nicht auf mich zu lieben", flüsterte ich kaum hörbar. Mama schien es aber trotzdem gehört zu haben. Sie griff nach meinen Händen und sah mir fest in die Augen. "Alexander, du bist mein Sohn, mein eigener Sohn. Ich kenne dich schon länger als irgendwer sonst, sogar länger als du dich kennst. Ich habe dich dein ganzes Leben lang begleitet, ob hinauf zu den höchsten Höhen oder hinunter zu den tiefsten Tiefen. Ich habe so viele Emotionen durchlebt, aber dich zu lieben... damit habe ich nie aufgehört. Und egal was du mir jetzt erzählst, ich werde es auch danach nicht tun."

Ich merkte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen und versuchte sie wegzublinzeln. Eine konnte ich jedoch nicht zurückhalten und sie rollte meine Wange hinunter. Sofort spürte ich wieder diese Wut in mir. Ich hatte mir fest vorgenommen nicht zu weinen, weinen war ein Zeichen der Schwäche. Ich hasste Schwäche - und ich hasste mich dafür, dass ich so schwach war. Jedes mal, wenn ich es zuließ, war ich wieder wütend auf mich selbst. Ich wollte endlich stark sein.

"Hey, es ist alles gut", beschwichtigte meine Mutter mich. Sie stand auf, ging vor mir in die Hocke und nahm wieder meine Hände in ihre. "Nichts, was du getan haben könntest, kann meine Liebe zu dir verändern."

Ich atmete tief durch und sammelte mich. "Mama, ich bin schwul." Meine Angst vor ihrer Reaktion war zu groß, ich konnte ihrem Blick nicht standhalten.

"Alex, sieh mich an", hörte ich sie mit sanfter Stimme sagen. Langsam hob ich den Blick und sah direkt in ihre Augen, in denen ich nichts als Liebe erkennen konnte. "Homosexualität ist etwas ganz natürliches, ich werde dich doch nicht verurteilen, wenn du dich zu deinem Geschlecht hingezogen fühlst. Ich will, dass du glücklich wirst und wenn du denkst, dass dich ein Mann an deiner Seite glücklicher machen kann, dann ist das für mich vollkommen in Ordnung."

Jetzt konnte ich die Tränen nicht mehr aufhalten. Eine nach der anderen rannen sie meine Wangen herunter - und diesmal wollte ich sie nicht zurückhalten. Ich war so erleichtert, dass ich das Gefühl hatte, ich würde fliegen. Überschwänglich fiel ich meiner Mutter um den Hals. Völlig überrumpelt verloren wir kurz das Gleichgewicht, doch konnten uns im letzten Moment noch retten. Mit Tränenüberströmten Gesicht fing ich laut an zu Lachen. Ich lachte wie ein Irrer und konnte mich gar nicht beruhigen. Meine Mutter hatte ich ganz fest an mich gepresst.

Nach einigen Minuten erstarb mein Lachen. Ich ließ meine Mutter los und half ihr hoch. "Danke Mama", flüsterte ich. Sie strich mir über meine geröteten Wangen, auf denen meine Tränen bereits getrocknet waren, und lächelte mich an. "Dafür doch nicht. Und jetzt erzähl mal, gibt es da jemanden Bestimmtes für den du schwärmst?"

Wir setzten uns wieder gegenüber an den Küchentisch. Eindringlich sah sie mich an, als wollte sie jede Emotion in meinen Augen lesen. Dieser intensive Blick brachte mich völlig aus den Konzept und ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. "Eh, naja, da gibt es wirklich jemanden...", druckste ich. "Und?", bohrte Mama weiter nach. "Er... also, du kennst ihn." Ich wusste, dass Mama es bereits ahnte. Ich hatte ihr in meinem gesamten Leben nur einen einzigen Freund vorgestellt.

"Felix?" Es klang mehr wie eine Feststellung, als wie eine Frage. Ich ließ die Schultern hängen und nickte. Meine Mutter zog scharf die Luft ein und lehnte sich auf ihrem Stuhl nach hinten. "Hui, verliebt in den besten Freund, das ist nicht leicht. Glaubst du denn, dass er auch auf Jungs steht?", fragte sie. Mir fiel Felix' und mein Gespräch einige Wochen zuvor wieder ein, bei dem er sich indirekt geoutet hatte.

"Ja, ich glaube schon. Er hatte mir gegenüber mal so Andeutungen gemacht. Und letzte Nacht...", ich brach ab. "Was war letzte Nacht", fragte Mama mich mit sanfter Stimme. Ich erzählte ihr alles. Wie wir eng aneinander gekuschelt eingeschlafen waren, wie er seinen Arm um meine Hüfte gelegt hatte und wie er meinte, dass er das gerne wiederholen würde.

Mama überlegte eine Weile, nachdem sie mir schweigend zugehört hatte. "Also wenn du mich fragst ist der Junge bis über beide Ohren in dich verknallt."

Song: Nur für uns - Fabian Römer

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