9 Das Gefühl zu fallen

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Für Sekunden starrte ich paralysiert und mit angehaltenem Atem auf das Fernsehgerät. Die Nachricht drang wie brennendes Eis in meinen Verstand. Meine Knie wollten mich nicht mehr tragen und ich sank zu Boden, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen. Kacchan und Shoto waren verunglückt. Tausend Messer stachen mir ins Herz. Ein Abgrund tat sich auf und ich hatte das Gefühl ins Bodenlose zu fallen. Nein! Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Nein! Nicht Kacchan! Nicht Shoto! Sie lebten. Einen anderen Gedanken ließ mein Verstand nicht zu. Man würde sie retten. Gleich würde ich die Nachrichtensprecherin sagen hören, dass alle in Sicherheit waren.

Ein weiteres Erdbeben riss mich aus der Erstarrung. Drei Helden, die gerade noch auf den Eingang zugestürmt waren, hielten inne und wichen zurück. Wieso taten sie das? Wieso unternahm niemand was?

Ich musste etwas tun. Irgendwas. Ich sah mich in der Wohnung um, als würde ich hier in meinen vier Wänden die Lösung finden. Mein Blick fiel auf den Schrank in der Ecke. Ich riss ihn auf und griff mit zitternden Fingern nach dem Helden Outfit, das da seit Jahren unbenutzt hing. Verkommen zu einer lächerlichen Verkleidung. In meinem Kopf blitzte immer wieder das Bild meiner verletzten Freunde auf und jedes Mal versetzte es mir unzählige schmerzende Stiche. Trieb mich gleichzeitig an.

Der grüne Stoff schien auf der Haut zu brennen und mir viel zu eng zu sein, mir regelrecht die Luft abzuschnüren. Alles, was ich noch damit verband war Leid und Schmerz und Tod und Trauer und noch mehr Leid. Gleichwohl beeilte ich mich, alle Protektoren und das Zubehör anzulegen. Wie durch eine fremde Macht gesteuert, rannte ich aus dem Apartment, setzte mich in Kacchans SUV und donnerte Richtung der Silberminen. Jede Minute, die verging, kam mir vor wie eine brutale Ewigkeit. Regen prasselte auf einmal sintflutartig gegen die Windschutzscheibe. Schränkte zusammen mit den Tränen in den Augen meine Sicht noch weiter ein. Dennoch beschleunigte ich die Fahrt.

Als ich die Stadtgrenze hinter mir gelassen hatte, legte sich ein schweres Band aus Furcht und Selbstvorwürfen um meinen Brustkorb. Was, wenn auch ich sie nicht retten konnte. Mein Herz raste, als wollte es aus der Brust springen. Mir schwindelte. Ich kannte das zur Genüge. Panik, die ich vergebens versuchte, mit aller Macht niederzukämpfen. Bei Sinnen zu bleiben.

Als ich auf den Zufahrtsweg zu den Minen einbog, schienen sich Schlingen, um meinen Hals gelegt zu haben. Ich bekam kaum noch Luft zum Atmen. Schwarze Flecken tanzten vor meinen Augen und ich war nicht in der Lage weiterzufahren. Ich lenkte den Wagen an den Straßenrand und hielt an.

Mein Kopf sank auf das Lenkrad. Ich war am Ende, bevor ich anfangen konnte. Ich würde nie wieder jemanden retten. Die Finsternis, die mich umgab, hieß ich willkommen. Der Abgrund, in den ich mich fallen ließ, würde mich nicht mehr ausspucken, das war mir klar.

Seit Jahren war die größte Panik, je wieder dieses Kostüm anzulegen und meine Quirks zu benutzen. Diese Dämonen in mir freizulassen und erneut die Kontrolle zu verlieren. Ein Monster, das ich einst erschaffen hatte, um andere Monster zu bekämpfen und dem nichts und niemand Einhalt gebieten konnte. Ein Monster, das Zerstörung brachte. Das Menschen verletzte, vielleicht tötete. Allein der Gedanke daran hatte mich so lange gelähmt und die Panik würde mich auch jetzt verschlingen.

Doch auf einmal ergriff mich eine viel größere Furcht. Was, wenn Kacchan tot war? Was, wenn man nur noch seine Leiche bergen konnte? Was, wenn auch Shoto tot war? Was, wenn ich meinen Geliebten und meinen besten Freund bereits verloren hatte? Oder was, wenn die, die ich liebte, sterben würden? Sterben, weil ich sie nicht retten konnte? Ich konnte das nicht zulassen. Niemals! Mit einmal war es ganz einfach, die Panik niederzuringen. Ich stieg aus dem Auto und aktivierte meine Quirks, als wäre es so leicht wie atmen und katapultierte mich in die Luft.

Kurze Zeit später landete ich vor der abgesperrten Mine. Außer Atem sah ich mich um. Warum tat hier niemand etwas. Ich ignorierte die Polizei und die anderen Helden und schoss an ihnen vorbei zum Eingang.

Ohne zu zögern, zerriss ich das gelbe Absperrband am Eingang und betrat die Mine. Ich starrte in eine alles verschlingende Dunkelheit, wie in den Rachen eines Ungetüms aus den Tiefen der Hölle. Eisige Kälte atmete mir entgegen. Ein Schauder lief mir über den Rücken. Ein beklemmendes Gefühl machte sich breit und ich blieb stehen. Schnell schaltete ich meine Taschenlampe ein. Der Schein wurde nach wenigen Metern von der allumfassenden Nacht verschluckt.

Als ich weiter vordrang, waren Decke und Wände mit einer Eisschicht überzogen. Das war Shotos Werk, um den Tunnel zu stabilisieren. Wasser tropfte unaufhörlich von der Decke und sammeltes ich in kleinen Pfützen. Mit klopfenden Herzen rannte ich los. Meine Schritte hallten unnatürlich laut wider. Ich spürte, wie ein leichtes Beben den Boden unter den Füßen zittern ließ. Das Knacken der Eisschichten war beängstigend und verhieß nichts Gutes. Ich musste mich beeilen. Ein erneuter Erdstoß und das Eis samt Felsendecke würde runterkommen. Der Stollen führte immer weiter in die Tiefe. Gänge zweigten ab, aber ich folgte einfach dem Eis. Es hatte die Luft so abgekühlt, dass sich kleine Atemwolken bildeten.

Kacchan, die alte Frostbeule, hasste die Kälte. – Warum fiel mir gerade das jetzt ein. Sein Quirk würde ihm hier nicht helfen und eher das Ganze verschlimmern. Das würde ihn so was von ankotzen.

Mit einem Mal stand ich vor einer Wand aus Stein.

Das war nicht einfach ein bisschen Geröll, das auf die Seite geschafft werden musste. Der Berg selbst schien eingestürzt zu sein. Etwas fraß sich erneut durch meinen Körper und schnürte mir den Hals zu. Die Dunkelheit und Trostlosigkeit dieser verfluchten Mine sickerten in mein Innerstes und ließen mich vor Verzweiflung erstarren. Das hier konnte keiner überlebt haben.

Die Erkenntnis traf mich wie ein Speer mitten ins Herz. Mutlos sank ich zu Boden. Jeder Atemzug schmerzte und die Hoffnung verließ mich. Die Wände schienen näher zu rücken. Die schreiende Stille wurde durch das Rauschen in den Ohren übertönt. Mein Körper war gelähmt und stumme Tränen rannen über die Wangen, fielen zu Boden und vermischten sich mit den Pfützen aus Schmelzwasser. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung. Vielleicht war es Shoto ja gelungen, rechtzeitig einen Schutzpanzer aus Eis zu erschaffen. Allzu lange würde dieser sicher nicht halten. Ich musste etwas tun und langsam kam ich auf die Beine. Welchen Felsbrocken sollte ich zuerst bewegen, ohne es noch schlimmer zu machen?

Schritte halten durch die Dunkelheit. Hatte es doch noch jemand gewagt, die Mine zu betreten? Ich drehte mich um und auf einmal stand Ochako vor mir. Ich stierte sie mit angehaltenem Atem an und sie starrte zurück. Mein Kopf war wie leer. Ich wollte etwas sagen, aber da formten sich keine Worte im Mund. Dann trafen Denki und Eijiro ein und kamen schlittern zum Stehen.

Ochako atmete tief durch, schritt an mir vorbei und legte die Hände an die Felsbrocken. „Los Deku! Zusammen bekommen wir das hin. Lass sie uns retten!"

Mit Ochakos Quirk, das die Gravitation beeinflusste und meiner Fähigkeit Blackwipe schafften wir es uns nach und nach vorzuarbeiten. Zwischenzeitlich hatten weitere Helden zu uns aufgeschlossen und sorgten dafür, dass die Felsbrocken abtransportiert wurden. Solange ich arbeitete blieb mir nicht viel Zeit, um nachzudenken.

Nach zwei Stunden trafen wir auf eine Wand aus Eis. Offensichtlich war es Shoto gelungen, einen Schutzwall zu errichten. Bestand noch Hoffnung? Doch wie ging es jetzt weiter? Das war eine massive Wand, keine Brocken, die man bewegen konnte. Sollte ich sie zerschmettern? Aber dann würden womöglich Bruchstücke auf der anderen Seite für noch ein größeres Unheil sorgen. Wir waren so weit gekommen und jetzt erwies sich Shotos Schutzmauern als eisiges Gefängnis.

Ich hämmerte an die Eiswand. „Shoto! Kacchan! Könnt ihr mich hören? Hallo?"

Keine Antwort. Verdammt. War das Eis zu dick oder waren sie vielleicht ...? Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen. Zu schmerzlich war die Vorstellung.

Da trat Burnin neben uns. Ihre brennend grünen Flammenhaare flackerten wild. Sie war eine Heldin aus Shotos Agentur, die er von seinem im Krieg verstorbenen Vater übernommen hatte.

„Es wird eine Weile dauern, aber ich schmelze euch einen Durchgang hinein. Das ist der sicherste Weg."

Es war die Hölle untätig danebenzustehen. Jeder Nerv in meinem Körper war zum Zerreißen gespannt. Mein Herz hämmerte. Ich ballte die Hände zu Fäusten, um mich davon abzuhalten die Geduld zu verlieren und eine Dummheit zu begehen.

Eine Stunde später fraß sich ein Halbrund durch das meterdicke Eis, gerade hoch und breit genug, um durchzukriechen. Noch bevor ich eine Chance hatte, mich Burnin anzuschließen, kamen mir 15 Schülerinnen und Schüler entgegen. Sie waren weitestgehend unverletzt, zitterten aber vor Kälte. Sie wurden von Helden mit warmen Decken in Empfang genommen und aus dem Stollen hinausgeleitet. Als der letzte Schüler durch den Eistunnel gekrochen war, schlüpfte ich mit rasendem Herzen hindurch.

Hinter der Eiswand lag ein kleiner, niedriger Raum, der an eine Eiskammer erinnerte. In dessen Mitte saß Shoto mit hängendem Kopf. Getrocknetes Blut klebte an seiner Schläfe. In seinen Armen hielt er wärmend den bewusstlosen Katsuki. Als ihn der Lichtkegel meiner Taschenlampe traf, sah er kurz auf.

„Ihr seid gekommen ...", flüsterte Shoto kaum hörbar, dann kippte auch er ohnmächtig zur Seite.

So schnell ich konnte stürzte ich zu ihnen. Ich sah, dass Kacchans rechtes Bein gebrochen war und mit einem Gürtel am Oberschenkel abgebunden wurde. Seine blonden Haare waren dunkelrot verfärbt. Seine Lippen blassblau. Erneut breitete sich eine lähmende Panik in mir aus und Tränen vernebelten mir die Sicht.

Auf einmal waren da Sanitäter und schoben mich zur Seite. Von dem Moment an geschah alles um mich wie in einem Film, bei dem jemand den Ton abgedreht hatte. Ich war lediglich ein Statist, der hilflos am Rand des Geschehens stand und keinen Einfluss auf die Ereignisse hatte.

Die Verletzten wurden auf Tragen geschnallt. Dank Ochakos Fähigkeit schwebten sie schwerelos über dem Boden und durch die Öffnung im Eis zurück in den Stollen. Ich folgte ihnen nach draußen. Besser gesagt, ich stolperte hinter ihnen her, außer Stande einen klaren Gedanken zu fassen. Erst, als ich frische Luft atmete, kam ich langsam wieder zur Besinnung. Es war bereits dunkel, doch die aufgestellten Flutlichter ließen die Nacht zum Tag werden.

Vor der Mine hatte die Polizei ein Sanitätszelt aufgebaut, in dem bereits die Jugendlichen versorgt wurden. Das Ganze erinnerte mich erschreckend an ein Kriegslazarett und unwillkürlich beschleunigte sich mein Puls. Mehrere Krankenwagen und ein Rettungshelikopter standen bereit, der jetzt seine Rotoren anwarf. Es herrschte fast ein geschäftiges Treiben.

Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich Recovery Girl sah. So geschwächt wie Katsuki und Shoto waren, würden sie bestimmt noch lange brauchen, bis sie genesen würden, aber ihr Quirk würde die Zwei retten. Die Anspannung in meinem Körper wich und als hätte man mir den Stecker gezogen, kippte ich einfach bewusstlos um.


Toyboy In A BirdcageWo Geschichten leben. Entdecke jetzt