15 Schicksal

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Ich weiß nicht, ob es der Schock war, oder mein Unterbewusstsein, aber ich erwiderte den Kuss. Für genau drei Sekunden. Dann stieß ich ihn unsanft von mir weg!

Langsam fing das Blut wieder an im Gehirn zu zirkulieren. „Hast du noch alle Tassen im Schrank? Was fällt dir ein?" Mein Herz klopfte schmerzend gegen die Rippen. Wie konnte er mir das antun?

„I... Izuku, du bist wieder da." Er kam erneut auf mich zu, doch ich wich zurück und er hielt inne. „Wieso meldest du dich nicht bei mir? Hast du meine Nachrichten nicht bekommen? Wir müssen reden."

„Wir müssen gar nichts. Halte dich von mir fern!" Wie konnte er es wagen, nach dem er mir das Herz gebrochen hatte, nach all dem, was passiert war, mich einfach zu küssen? „Ich verschwinde." Ich drehte mich um und ging zurück zum Reisregal. Immer noch war mein Verstand nicht bereit, das alles zu verarbeiten.

„I... Ich liebe dich, Izuku Midoriya."

Ich hielt den Atem an und erstarrte in der Bewegung. Das hatte er nicht wirklich gesagt. Ich schien in einem Meer von Verletzungen zu ertrinken, das mich immer noch umgab. Ohne mich nochmals umzudrehen, griff ich nach dem nächstbesten Reis, warf ihn in den Einkaufswagen und wollte davon stürmen, als sich erneut Finger um mein Handgelenk schlossen.

„Lass mich los!", presste ich zwischen den Zähnen hervor.

„Nein! Nicht bevor wir ..."

Ich schlug ihn so fest vor die Brust, dass er zurück zwischen die Regale flog, und stürmte los zur Kasse. Es war schon wieder eine Flucht, aber es war mir egal.

Vielleicht war es gar nicht zu vermeiden gewesen ihn zu sehen, aber musste es denn jetzt schon sein und musste er so etwas zu mir sagen, nur um mich aufzuhalten? Und verdammt noch mal, warum kribbelten meine Lippen, als könnten sie sich noch an diesen Kuss erinnern. Ich wischte mit dem Handrücken darüber.

Ich hatte kaum meine Einkäufe in die Schränke eingeräumt, als es gegen die Wohnungstür hämmerte.

„Lass mich rein Deku, oder ich schwöre dir, ich sprenge die scheiß Tür in die Luft."

Ich wollte jetzt nicht mit ihm reden. Dafür war ich viel zu aufgewühlt. Ich hatte es noch nicht mal geschafft meine Gedanken zu sortieren, geschweige denn die unerwartet heftigen Gefühle, die in mir aufgekeimt waren. Hatte denn all der Abstand nichts gebracht? Wieso bedrängte er mich so? Aber schließlich gab es nur einen richtigen Weg, und den würde ich nicht mehr verlassen. Also konnte ich genauso gut jetzt mit ihm reden. Zudem traute ich ihm durchaus zu, dass er meine Tür, ohne mit der Wimper zu zucken, demolieren würde.

„Komm rein ..."

Er überwand den Abstand mit einem Schritt und schlang die Arme erneut um mich. Diesmal ohne mich zu küssen. Stattdessen vergrub er sein Gesicht an meiner Schulter und ich spürte, wie er zitterte. Automatisch versteifte ich mich. Was bei allen Göttern war hier eigentlich los? Was war mit Kacchan los? Ich hatte das Gefühl, ich hatte irgendetwas verpasst.

Sachte, aber mit Nachdruck schob ich ihn von mir, obwohl sich mein Innerstes dagegen sträubte. „Fass mich nicht an!"

Seine Augen weiteten sich für einen Moment. „Es tut mir so unendlich leid, Izuku. Kannst du mir je verzeihen?"

Standen da Tränen in seinen Augen?

„Das sollte es auch. Du kannst mich doch nicht einfach so küssen und mir so etwas sagen."

„Das meine ich nicht. Es tut mir nicht leid, dich geküsst zu haben. Auch wenn es vielleicht nicht richtig war."

„Was heißt hier vielleicht?"

„Ich habe nicht gelogen, als ich sagte, dass ich dich liebe. Auch wenn du mir offenbar nicht glaubst. Ich habe offensichtlich zu lange gebraucht, um es zugeben zu können, doch jetzt ..."

Den Stich, den es mir versetzte, schien mein gerade heilendes Herz zu durchbohren. „Nein! Wie kannst du es wagen? Ich hab so lange gebraucht, um endlich damit klarzukommen. Du liebst mich nicht. Du liebst Ochako. Die Frau, die dein Kind auf die Welt bringen wird. Ich habe nicht vor, euer fünftes Rad am Wagen zu spielen."

„Wir haben uns getrennt."

„Was?" Was sagte er da, wollte er mir so ein billiges Märchen erzählen. So etwas würde er doch nie tun. Ungläubig schüttelte ich den Kopf.

„Es stimmt, glaub mir."

„Aber warum?"

„Ich liebe sie nicht. Und sie liebt mich nicht."

„Und das Kind?"

„Ist nicht von mir. Im Grunde genommen, hat sie mich verlassen."

„Was? A... aber, das kann nicht ... Was?" Ich war nicht in der Lage, sein seltsames Gerede zu begreifen.

„Jedes Wort davon ist wahr. Ich brauche dich, Izuku. Mehr als du dir wahrscheinlich vorstellen kannst. Ich habe dich so schrecklich vermisst. Jeden verdammten Tag. Jede verdammte Sekunde, seit ich dich in dem Schnellrestaurant zurückgelassen hatte. Es hat mich fast verrückt gemacht nicht zu wissen, ob du mir je verzeihen kannst, dass ich dich von mir gestoßen habe, anstatt zu dir zu stehen. Kannst du mir verzeihen? Bitte verzeih mir. Ich hatte versucht, das Richtige zu machen, aber das war es zu keinem Zeitpunkt gewesen. Eine Lüge kann nie das Richtige sein. Wahrscheinlich hatte Ochako das letztendlich auch begriffen. Es tut mir so unendlich leid, was ich dir angetan habe. Wie sehr ich dich damit verletzt habe."

Jetzt rannen tatsächlich Tränen über seine Wangen und das war schwerer zu begreifen und zu ertragen, als alles, was er mir gerade erzählt hatte. Seit dem Krieg hatte ich Kacchan nie wieder weinen sehen. Den Seelenschmerz, der sich in seinem Gesicht spiegelte, kannte ich zu gut und ich wusste, wie sehr er litt. Ich wollte zu ihm, ihn trösten, aber etwas hielt mich davon ab. Ließ mich sogar vor ihm zurückweichen. Wie sollte ich das alles glauben und selbst wenn ...? Nein, es gab nur einen Weg. Ich musste das Kapitel Katsuki Bakugo hinter mir lassen.

Ich schlang die Arme um meinen Körper und die Worte kamen über meine Lippen, als würde sie jemand anderes sagen. „Es war nicht deine Schuld, Katsuki. Nichts davon. Aber dennoch kann ich das nicht mehr. Bitte geh."

Er starrte mich mit angehaltenem Atem an und ich glaubte, in seinen Augen zu sehen, wie sein Herz brach. Und als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, setzte ich mich auf mein Sofa und weinte so lange, bis keine Träne mehr übrig war.

In den nächsten Tagen und Wochen hatte ich Shoto und seine Familie besucht, mir eine Wohnung in der Nähe meiner neuen Schule, einen Nachmieter und eine Umzugsfirma gesucht. Doch es hatte keinen Tag gegeben, an dem ich nicht den Focus verloren und an Kacchan gedacht hatte.

Ich konnte gar nicht mehr zählen, wie oft ich mein Handy in der Hand hatte, um ihn anzurufen, und es dann doch wieder weggelegt hatte. Wir hatten keine Zukunft, das war mir längst klar. Ihn wiederzusehen würde daran nichts ändern und nur unnötig schmerzen. Und dann waren alle Umzugskartons gepackt und ich hatte mich von allen verabschiedet, außer von ihm. Es war besser so. Jetzt saß ich auf einem der Kartons und wartete auf die Umzugsfirma.

Ich hatte es nicht geschafft, Kacchan endgültig hinter mir zu lassen, und ich würde ihn wohl noch eine Weile mit mir herumtragen. Ein Phantomschmerz in meinem Herzen. Aber die Zeit würde vergehen und ich würde irgendwann eine neue Liebe finden. Ein neues Leben anfangen können. Weit weg von allem, was mich in der Vergangenheit hielt. Rettungsringe und Strohhalme brauchte ich nicht mehr. Nie mehr.

Ich vergrub das Gesicht in den Händen. Ich würde ihn nicht wiedersehen. Nie wieder. Verdammt, ich vermisste ihn so sehr, dass mein Innerstes brannte. War es nicht vielmehr so, dass Phantomschmerzen nie vergingen? Man hatte etwas verloren, einen Fuß, einen Arm - ein Herz und der Schmerz blieb, für immer?

Wenn jetzt nicht endlich diese Umzugs-Typen kamen, würde ich es mir noch anders überlegen. Endlich klingelte es. Ich atmete tief durch, sah mich ein letztes Mal um, öffnete die Tür und erstarrte in der Bewegung.

„Es ist also tatsächlich wahr. Du verlässt die Stadt, ohne dich zu verabschieden."

„K... Kacchan?" Von der einen auf die andere Sekunde hämmerte mein Herz so sehr in der Brust, dass es brannte. „W... was machst du hier?"

„Tss ... Ich musste mich mit meinen eigenen Augen davon überzeugen, was Shoto mir erzählt hat." Bitterkeit lag in seiner Stimme.

„Na, das hast du ja jetzt. Bitte geh wieder. Mach es mir nicht unnötig schwer."

Er kam auf mich zu und ich wich zurück an die Wand. Plötzlich war er mir so nah, dass ich seine pulsierende Wärme spüren konnte. Meine Atmung beschleunigte sich.

„Einen Scheiß werde ich! Ich werde es dir nicht leicht machen. Du rennst weg, obwohl du mich doch eigentlich liebst. Wovor hast du solche Angst?"

Wir wussten beide, dass er recht hatte, aber dennoch schüttelte ich kaum merklich den Kopf.

„Ich werde dich nicht einfach so gehen lassen. Ich liebe dich, Izuku. So sehr. Habe ich dich je angelogen? Ich weiß, ich hab viele Fehler gemacht, weil ich nicht auf das gehört habe, was mein Herz von Tag zu Tag lauter geschrien hat. Bitte lass mich es wieder gutmachen. Lass mich dich glücklich machen. Lass mich dich lieben. Verdammt Izuku, verlass mich nicht schon wieder." Er ließ die Schultern sinken und Tränen rannen über sein schmerzverzerrtes Gesicht. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern, als er weitersprach. „Warum, Izuku? Warum tust du uns das beiden an?"

Es war nicht so, als hätte ich die Kontrolle über meinen Körper oder mein Handeln gehabt, als ich die Arme um ihn schlang und ihn leidenschaftlich küsste. Küsste, als wollte ich ihm all den Schmerz nehmen. Mir diesen Schmerz nehmen. Ich schmeckte das Salz seiner Tränen, aber ich küsste ihn weiter, bis sie versiegten. Auf einmal war es, als hätte es die letzten Monate nicht gegeben. Mein Herz überschlug sich. Wie hatte ich nur gedacht, mich von ihm fernhalten zu können? Ich wollte ihm einfach glauben. Glauben, dass er mich wirklich lieben könnte, und sei es nur für ein paar letzte unendliche Minuten.

Mein Handy klingelte und ich löste mich von ihm und ging ran.

„Das war meine Umzugsfirma. Ihr Laster hatte auf dem Weg hier her einen Unfall und ihr anderer hat eine Panne. Vor Montag wird das nichts."

Katsuki lachte leise. „Na, wenn das kein Schicksal war."

„Schicksal?" Ich sah mich in der Wohnung um. Alles war eingepackt oder zum Transport vorbereitet. „Aber was soll ich denn jetzt machen?"

„Na was schon, du Trottel. Du bleibst hier."

Er griff nach meiner Hand und zog mich hinter sich her aus der Wohnung. „Lass uns erstmal hier verschwinden. Ich brauch dringend frische Luft."

Noch ehe ich wusste, wie mir geschah, saß ich in seinem Wagen und er fuhr einfach los. Im Radio lief leise Musik. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und stattdessen sah ich gedankenversunken aus dem Fenster. Ich konnte nicht hierbleiben. Ich hatte doch schon mein neues Leben geplant. War bereit gewesen, es anzutreten. Das war doch einer der vielen Punkte auf der To-do-Liste, die ich im Sanatorium erstellt hatte. - Schließe mit allem ab und plane dein neues Leben.

Tja, einen schönen neuen Plan hatte ich. Aber war ich wirklich bereit gewesen? Das Problem war, dass ich immer noch nicht ganz mit meinem alten Leben abgeschlossen hatte. Dass ich ganz offensichtlich nicht mit Kacchan abgeschlossen hatte. Wie sollte ich voranschreiten, wenn hier immer noch jemand war, der mein Herz in seinen Händen hielt. Wenn dieses beschissene Schicksal unsere Fäden so verworren hatte, dass sie sich einfach nicht durchtrennen ließen.

Er hielt an und erst jetzt realisierte ich, dass wir am Meer waren. Genau an dem Strand, an dem wir vor vielen Monaten einige glückliche Stunden verbracht hatten. Er stellte den Motor ab und sah mich aus dem Augenwinkel an.

„Wollen wir aussteigen?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Jacke dabei."

„Warte, ich hab eine hinten im Wagen."

Er stieg aus, lief um das Auto, holte etwas aus dem Kofferraum, kam zu mir und öffnete die Beifahrertür. Sofort pfiff eine eisige Brise in den SUV.

„Hier, zieh die an."

Ich nickte und griff danach. Die Jacke war mir mindestens zwei Nummern zu groß, aber sie war einigermaßen winddicht und hielt warm. Der kalte, salzige Seewind kniff mir in die Wangen und ich schlug den Kragen der Jacke auf und versteckte die Finger in den langen Ärmeln, während wir zum Strand liefen. Die sturmgepeitschte Brandung rauschte laut und weiß schäumend ans Land. Bildete einen harten Kontrast zu dem fast schwarzen Meer.

Er vergrub seine Fäuste in den Jackentaschen und sah weltvergessen zum Horizont. „Weißt du, hier bin ich immer hergekommen, wenn ich dich so vermisst habe, dass ich glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Ich wollte immer noch einmal mit dir zusammen hierher." Er lächelte versonnen. „Na ja, egal wie du dich entscheidest, wenigstens konnte ich mir das noch erfüllen." Das Lächeln erreichte nicht die Augen. Er zog die Schultern hoch. „Scheiße, ist das kalt hier. Sollen wir wieder zurückgehen?"

Mir war nicht kalt, denn mein Herz schien zu glühen. Warum sagte er all diese Dinge, die sich so richtig anfühlten und mich genau in selbiges trafen?
Auf einmal schlang er die Arme um mich und küsste mich. Der Kuss schmeckte bittersüß. Voller Hoffnung und Verzweiflung zugleich. Er schmeckte so, wie ich mich fühlte. So wie wir uns offensichtlich beide fühlten.

„Geh nicht weg, Izuku! Bleib!"

Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht bleiben. Spätestens ab Mitte nächster Woche wäre ich obdachlos."

„Dann kommst du zu mir. Solange bis du eine neue Wohnung hast." Er senkte den Blick. „Oder für immer."


Toyboy In A BirdcageWo Geschichten leben. Entdecke jetzt