13 Der Dolch im Herzen

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Die Seile hatten bizarre Muster auf meine Haut gezeichnet, die erst nach Stunden verblassten. Was uns auch die Zukunft bringen würde, diese Nacht, in der er mich fliegen ließ, würde ich nie wieder vergessen.

Ich war erschöpft, dennoch fand ich keinen Schlaf, ganz im Gegenteil zu Kacchan, der friedlich neben mir schlummerte. Ich war immer noch sein Toyboy, aber es hatte sich etwas verändert. Wir waren uns auf eine Art und Tiefe näher gekommen, die alles verwandelte und sich nicht mehr leugnen ließ. Selbst Kacchan schien es zu bemerken und dennoch tat keiner den letzten Schritt über die Grenze, da es dann kein Zurück geben würde. Das wusste ich so gut wie er. Aber mir wurde immer klarer, so konnte es auch nicht weitergehen. Ich hoffte, ich würde den Mut finden, den Käfig, in den ich mein Herz eingesperrt hatte, zu öffnen, um mit Katsuki über meine wahren Gefühle zu sprechen.

Wir hatten auch den ganzen Sonntag zusammen im Bett verbracht und als ich mich verabschiedete, hatte ich einen innigen Abschiedskuss bekommen und das Versprechen, dass er sich bei mir melden würde.

Es war am Dienstag, nach der Arbeit, als mein Smartphone klingelte. Verwundert sah ich, dass mich Kacchan anrief. Was ungewöhnlich war, denn er schrieb mir immer Nachrichten. War etwas passiert?

Er bat mich um ein kurzfristiges Treffen in einem Schnellrestaurant in der Nähe der Akademie. Er nannte keinen Grund, aber alleine an seiner Stimme erkannte ich, dass es etwas Ernstes war. Ging es ihm nicht gut?

Das Restaurant lag nur vier Minuten zu Fuß entfernt, doch mit jedem Schritt, den ich machte, schien sich eine zunehmende Last auf meine Schulter zu legen. Es begann zu regnen und ich betrat schnell die kleine Gaststätte, in der ich seit der Schulzeit nicht mehr gewesen war. Kacchan war noch nicht hier und ich setzte mich an einen der freien Tische.

Das ungute Gefühl verstärkte sich noch. Mechanisch griff ich nach der Speisekarte, obwohl ich längst wusste, was ich bestellen würde. Paniertes Hähnchenschnitzel mit Reis und Pilzen.

Hier hatte sich wirklich nichts verändert. Die gleichen Tische, in deren Mitte neben der immer gleichen Speisekarte eine Plastikblume in einer kleinen Glasvase stand, die gleichen schwarz gestrichenen, unbequemen Holzstühle, die gleichen langweiligen Landschaftsbilder an der Wand. Selbst das gleiche viel zu dunkle Licht aus diesen kitschigen schwarzweißen Kronleuchtern an der Decke. Nur ich war ein anderer geworden.

Damals, vor so vielen Jahren, war ich so schrecklich naiv. Damals glaubte ich noch, dass es nichts Besseres geben konnte, als ein Pro-Held zu sein, zusammen mit Kacchan und Shoto und all den anderen. Dass dort, wo Licht war, kein Schatten sein konnten. Dass die Welt getrennt war nach Schwarz und Weiß. Das Monster immer auf der anderen Seite der Grenzlinie zu finden waren. Tja, und Wörter wie posttraumatische Belastungsstörung, kannte ich noch nicht mal.

Doch heute wusste ich, dass die gesamte Welt grau war, dass selbst in All Might Dunkelheit existiert hatte und dass letztendlich jeder davon, auf die eine oder andere Art, verschlungen werden konnte.

Ich schlug die Karte in ihrem weinroten Kunstlederumschlag ungelesen wieder zu. Das Atmen fiel mir auf einmal schwer, als würde sich ein Band um meine Brust mehr und mehr zuziehen. Etwas sagte mir, ich sollte aufstehen und rennen. Als ich es keine Sekunde mehr länger aushielt und gerade gehen wollte, betrat Kacchan das Restaurant.

Mit großen Schritten kam er auf mich zu. Ohne ein Wort setzte er sich mir gegenüber. Ich sah ihn an, suchte in seinen roten Seelenspiegel nach etwas, das mir sagte, dass alles in Ordnung wäre, doch alles, was ich sah, war eine hoffnungslose Leere. Jeder Funke darin war erloschen. Ich erschauderte bis auf die Knochen.

„Izuku, wir müssen reden!" Das leichte Flattern in seiner Stimme war kaum zu hören.

Der Abstand zwischen ihm betrug nur wenige Zentimeter, aber fühlte sich auf einmal endlos an. Wie ein ganzes Universum. Unwillkürlich fingen meine Hände an zu zittern.

„Kacchan, i... ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr, so verzweifelt und so lange, dass es wehtut. Du bist so viel mehr als nur ein Freund mit gewissen Extras. Du bist die Liebe meines Lebens. Und ich weiß, dass auch du etwas für mich empfindest."

Ich wusste nicht, warum mir diese Worte so plötzlich über die Lippen kamen. Vielleicht weil ich spürte, dass ich keine weitere Chance mehr bekommen würde. Vielleicht weil ich spürte, dass etwas Unaufhaltsames auf mich zurollte und mich zerschmettern würde.

Seine Augen weiteten sich und sein Mund klappte auf. Doch dann schluckte er und senkte den Blick und ich wusste, ich hatte ihn verloren.

„Izuku, es tut mir leid ..."

Ich schüttelte den Kopf. „Nein! Sag das nicht!" Ich griff nach seinem Arm, doch er entzog ihn mir.

„Sie ist schwanger."

Der Dolch, der sich in mein Herz bohrte, ließ mich vor Schmerz zusammenzucken. Und dann brach es entzwei. Ich spürte den Drang, mich zu übergeben.

„Von dir?", fragte ich mit belegter Stimme, doch er ging nicht auf die Frage ein.

„Ich werde die Verantwortung dafür übernehmen. Es tut mir leid. So hätte es nicht enden sollen."

Das Schweigen, das sich zwischen uns ausbreitete, war ohrenbetäubend. Er stand auf und wollte gehen, doch ich griff erneut nach seinem Arm. Er sah mich an, allerdings spiegelten sich in diesen Augen keinerlei Emotionen und ich sah, wie sich sein Blick weiter distanzierte.

„Lass mich nicht allein", flehte ich mit Tränen in den Augen und bebender fast tonloser Stimme.

Er zuckte, doch gleichzeitig trat eine eiserne Härte in sein Gesicht.

„Sag mir eins, Kacchan, hat dir das mit uns je etwas bedeutet?"

Er entwand sich meinem Griff und senkte den Blick. „Das spielt keine Rolle mehr. Leb wohl, Deku."

Ich hatte keine Ahnung, wie ich es nach Hause geschafft hatte. Ich setzte mich aufs Sofa, ohne das Licht anzuschalten. Mein Herz blutete und hämmerte schmerzhaft in meiner Brust. Schien sie innerlich zu zerreißen. Mein Himmel würde nie wieder aufhören zu weinen. Ein bitterer Geschmack breitete sich im Mund aus und sickerte wie Gift durch meinen Körper. Lähmte mich.

Bis eben hatte ich den Schmerz noch ein wenig verdrängen können, aber jetzt stürzte alles auf einmal auf mich ein. Meine Brust brannte, als wollte etwas mit scharfen Klauen mein Herz samt Seele herausreißen. Kälte stieg wie ein Unwetter in mir auf und raubte mir förmlich die Luft. Zog mich in die trostlose, tosende Dunkelheit.

Tränen, die über meine Wangen rannten, brannten wie Säure auf der Haut. Die wachsende Verzweiflung schien mich innerlich zu zerreißen, als wären die seelischen Qualen körperlich geworden. Schluchzend krümmte ich mich zusammen. Rollte mich ein. Umschlang meine Beine in dem jämmerlichen Versuch, nicht ganz den Halt zu verlieren. Nicht ganz auseinander zufallen. Ich fühlte mich, als wäre ich allein auf dieser schrecklichen kalten, schmerzenden von Gott verlassenen Welt. Alles in mir sehnte sich nach einem Ende, denn eine Zukunft gab es nicht mehr. Ich konnte es nicht ertragen. Wollte es nicht ertragen.

Am Rande meines Bewusstseins hörte ich das Smartphone klingeln. Ich ignorierte es. Sank weiter in die Tiefe, die mich gefangen hielt. Denken war nicht mehr möglich. Ich war mir noch nicht mal sicher, ob ich noch atmete. Ob mein Herz noch schlug. Ob ich nicht bereits aufgehört hatte zu existieren. Irgendwann klingelte es an der Haustür. Auch das konnte mich nicht aus der Lethargie befreien. Ich hielt mir lediglich die Ohren zu. Schloss die Augen, um das letzte bisschen dieser beschissenen Welt auszuschließen. Es war mir alles zu wider, zu viel. So wie damals, als sie mich in ein Sanatorium sperren wollten. Ein scheiß Euphemismus für Nervenheilanstalt oder Psychiatrie.

Nur dank Shoto und Katsuki war ich nicht in der Klapse gelandet. Sie hatten sich um mich gekümmert. Hatten mich nie allein gelassen mit diesen schrecklichen Erinnerungen. Diesen finsteren Gedanken. Einer von ihnen war immer bei mir gewesen. Sie achteten darauf, dass ich aß und dass ich schlief. Dass ich mein Leben wieder auf die Reihe bekam. Sie brachten mich sogar einmal in der Woche zu einer Art Therapie. Freunde fürs Leben, würde ich sagen. Meine Retter, meine Helden. Doch irgendwann mussten und konnten sie ihr eigenes Leben leben und ich das meine. Mehr oder weniger.

Doch jetzt kam die Finsternis aus der Vergangenheit wie ein Schreckgespenst zurück. Riss mich noch weiter in den Abgrund. Erinnerungen schwappten an die Oberfläche, denen ich nichts entgegensetzen konnte. Erinnerungen, die ich stets versuchte in den tiefsten Tiefen meines Bewusstseins zu vergraben und es mir doch nicht gelang. Bilder von unschuldigen Männern, Frauen und Kinder, mit zerschmetterten Knochen, von Trümmern erschlagen. Helden wie Schurken, getötet im Kampf. Blut, Dreck und Staub bedeckten ihre Körper. Verletzte, die verzweifelt um ihr Leben kämpften. Bilder von zerstörten Häusern, Trümmer, Scherben. Markerschütternde Schreie vor Leid, Verlust, Angst und Schmerz. Ohrenbetäubend. Unvergesslich eingebrannt in meinen Geist. Und nicht zuletzt das Blut, das an meinen Händen klebte. Sich niemals abwaschen lassen würde.

Meine Seele war viel zu fragile. Ich spürte, wie ich immer mehr innerlich zerbrach und wie sich stechendes Eis um mein Herz legte. Mein Körper zitterte. Ich wollte schreien, so wie es meine Seele tat, aber kein einziger Laut verließ meinen Hals, der sich wie zugeschnürt anfühlte.

Ich spürte, dass sich jemand zu mir aufs Sofa setzte, dennoch blickte ich nicht auf. Konnte es nicht. Ich wusste auch so, dass es Shoto war. Ich hörte ihn ganz leise, mit sanfter Stimme reden. Doch seine Worte ergaben keinen Sinn, als würde er in einer fremden Sprache sprechen. Ich spürte seine Hand auf dem Rücken. Sie bewegte sich in zentrischen Kreisen und schickte Wärme in meinen Körper und meine Seele. Verhinderte, dass ich völlig zu Eis erstarrte. Ich wollte nur noch schlafen. In süßes Vergessen versinken. Am besten für immer.

Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich aufwachte, saß Katsuki neben mir. Zumindest glaubte ich das für einen Wimpernschlag, denn als ich blinzelte, war da Shoto, sein Kopf auf die Brust gesunken und er schlief. Der Schmerz in meinem Herzen kam sofort mit brutaler Stärke zurück und schien dort zu explodieren. Tränen brannten in meinen Augen.

Ich konnte und wollte diese Qual nicht länger ertragen. Ein kühler Wind wehte durch die offene Balkontür herein. Langsam stand ich auf. Es gelang mir nicht, die Beine zu heben. Ich fiel hin und krabbelte auf allen vieren weiter Richtung Balkon. Richtung Erlösung. Tränen liefen mir unentwegt, unaufhaltsam über das Gesicht. Unsäglicher Schmerz pulsierte durch meinen Körper.

Mein gesamtes Leben kam mir vor wie eine ferne Erinnerung hinter einem Schleier aus Nebel. Nur der Schmerz war allgegenwärtig, allumfassend. Verbrannte mich zu einem Häufchen Asche. Endlich hatte ich es geschafft und zog mich an dem Geländer empor. Der Wind blies mir entgegen, als wollte er den Rest meines Seins fortwehen. Ich beugte mich über die Brüstung. Vor kurzem war er da unten gestanden, lässig an sein Motorrad gelehnt. Jetzt war die regennasse Straße verwaist. Das Licht einer Straßenlampe flackerte ein paarmal auf, dann erlosch es ganz. Verdunkelte die Straße zu einem schwarzen Abgrund der Leere. Ich kletterte über das Geländer und starrte in die Tiefe.

Der Schmerz musste enden, egal wie. Ich begrüßte die Dunkelheit, die mich verschlingen würde, die mich willkommen heißen würde in ewigem Vergessen. Ich lehnte mich nach vorne. Meine Freunde würden darüber hinwegkommen. Und Kacchan? Er hatte sie und bald eine Familie. Ich wäre nicht mehr als eine lästige Erinnerung, die er so noch schneller vergessen könnte. Unsere Affäre war nie für die Ewigkeit gedacht.

Ich musste nur loslassen und alles wäre vorbei. Und auf einmal lächelte ich.

„Izuku! Tu das nicht!" Shoto stand in der Tür. Wie immer strahlte er eine unglaubliche Ruhe aus.

„Lass mich! Ich kann nicht...", krächzte ich mit trockenem Mund.

Er trat auf den Balkon. „Es gibt Menschen, die um dich trauern werden."

Ich lachte freudlos und schüttelte den Kopf. Er nicht. Er würde mich im Leben nicht vermissen. „Ich liebe ihn, Shoto."

„Ich weiß."

Er machte einen weiteren Schritt auf mich zu, packte mich an meinem Arm und zog mich zurück auf den Balkon. Meine Beine gaben nach und ich sank zu Boden. Shoto kniete sich zu mir, zog mich in eine Umarmung und hielt mich fest.

„Verdammt Izuku, was tust du? Ich weiß. Manchmal ist das Leben beängstigend, aber du bist doch kein Feigling. Also steh auf und leb dein Leben weiter. Und wenn du glaubst, es nicht zu können, ist es keine Schande nach Hilfe zu fragen. Du wolltest schon immer alles alleine schaffen, aber du brauchst Hilfe. Und Izuku, auch wenn es gerade weh tut, es wird besser." Shoto strich mir über die Haare und hob meinen Kopf an, sodass ich ihn ansehen musste. „Du hast Freunde, die dich lieben. Du hast Schüler und Kollegen, die dich schätzen, dich bewundern und die sich auf dich verlassen. Es ist ein gutes Leben. Nicht wahr?"

Ich schüttete den Kopf, doch dann nickte ich.


Toyboy In A BirdcageWo Geschichten leben. Entdecke jetzt