18 - Abschiedsstimmung

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Nach und nach verheilten Kutchers äußere Wunden – Vlesk konnte nur hoffen, dass das auch für seine inneren galt. Aber Kutcher sah ihm nicht mehr richtig in die Augen. Er wimmelte alle Gesprächsversuche ab und saß viel alleine in O2 und am Lavasee.

In den Gemeinschaftsräumen vertrieben Vlesk, Baso und Shantao sich die Zeit, lasen, zeichneten, spielten leise Spiele. Von Zeit zu Zeit ertönten Geräusche aus Richtung der Schlafräumen, Krachen, Schreien und Wimmern.

Sie hatte ihre Matratzen in Office und Admin ausgebreitet, schliefen mit den Kissen über dem Kopf. Es war einfacher, nicht zu genau hinzuhören. Mehrmals am Tag brachten sie Paarzi etwas zu essen, wenn er schwor, gerade einen guten Moment zu haben. Dennoch war der Taser stets griffbereit.

Einzig Shantao saß jeden Tag stundenlang vor der Zimmertür und redete mit Paarzi. Manchmal setzte Baso sich dazu und sie lasen ihm zusammen etwa vor.

Der Stapel der zerlesenen Bücher wurde immer höher.

Der Donut-Vorrat ging zur Neige.

Die Organisation meldete sich nicht.

Vlesk fragte regelmäßig alle nach möglichen Symptomen ab, aber niemand weiteres schien sich mit dem Virus angesteckt zu haben. Nach einer schlaflosen Nacht kramte er in der Bibliothek einen Stapel verblichener linierter Blätter hervor und begann einen knappen Bericht zu schreiben, in dem er versuchte alle Ereignisse seit der ersten Nachricht über das Virus chronologisch aufzuschlüsseln, zusammen mit einer Auflistung aller Beobachtungen, die er über das Virus, seine Symptome und Wirkungsweise hatte herausfinden können.

Am fünften Tag nach der »Eskalation« – wie sie den Tag umschrieben, an dem sie Gnu verloren, Kutchers Leben riskiert und Paarzi entlarvt hatten – fünf Tage danach also war Vlesk fertig mit seinen Aufzeichnungen. Er legte den Stift zur Seite, sortierte die Blätter zu einem Stapel, wobei er darauf achtete, dass alle Seiten gerade übereinander lagen; dann stützte er den Kopf auf die Hände und schloss die Augen. Eine Weile verharrte er so regungslos.

Vlesk? Sag ihnen, dass ich es nicht war.

Dieser Blick.

Warum vertraust du mir nicht?

Kutchers Haltung war die ganze Zeit aufrecht und sicher gewesen, aber dieser Blick. Etwas in Vlesks Brust hatte sich in dem Moment zusammengezogen und seitdem nicht mehr gelöst. Er rieb sich fest über die Brust und versuchte so viel Luft wie möglich in seine Lungen zu pumpen. Obwohl er die Augen wieder geöffnet hatte, blieben gestochen scharf die Bilder von Kutchers zerschmetterten Helm. Und dem Blut. So viel Blut in den letzten Wochen.

Er seufzte, starrte auf seine Hände und dachte daran zurück, als er nicht sicher gewesen war, ob er sich selbst vertrauen konnte, ob er merken würde, dass er sich an die letzten Minuten nicht mehr erinnerte, dass er außer Kontrolle geraten könnte. Aber nein, jetzt wusste er, dass seine Hände von fast keinem Blut befleckt waren. Fast? Nein, von keinem – Kutcher war unschuldig, also hatte Vlesk damals nach Karuzos Tod nicht dabei geholfen einen Mord von Kutcher zu vertuschen. Die ganze Situation war einfach nur verkappt gewesen. War sie ja immer noch.

Wie sollten sie nach dieser Erfahrung einfach so, unbeschwert, in ihr altes Leben zurückkehren? Würden sie das überhaupt?

Zum ersten Mal machte Vlesk sich richtig bewusst, dass er in der letzten Zeit ständig in Lebensgefahr gewesen war. Er hatte nur Glück gehabt. Der Knoten in seiner Brust zog sich noch enger zusammen.

Einen Augenblick später krampfte sich der Knoten so fest um sein Herz, dass er das Gefühl hatte, es müsste stehen bleiben. Ein tiefes Dröhnen erklang. Es erschütterte die Wände, den Stuhl und Tisch und Vlesks Körper. Dann flackerte das rote Licht auf. Sofort war Vlesk auf den Beinen, stieß dabei mit der Hüfte an die Tischecke. Sekündlich blinkte das rote Licht und tönte der Alarm und sekündlich schlug sein Herz schneller. Im Flur kam ihm Baso entgegen – »Ins Office!« – und gemeinsam erreichten sie den großen Versammlungsraum. Hier hatte alles angefangen, schoss es Vlesk durch den Kopf. Hinter ihnen tauchte Shantao auf, durch die andere Tür kam Kutcher geeilt.

fast schon Blutmond // Among UsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt