10 - Kartenstudium

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Der Vorhang mancher Gedankenspiele öffnet sich von selbst. Und manchmal ist das Stück dann zu schön, um einfach aufzustehen und zu gehen.

Vlesk war auf Terra IV in der Bibliothek seiner Heimatstadt und lehnte in Jeans und Shirt an einem der Regale. Überall roch es nach Büchern. Kutcher war auch da, er stand neben ihm und stützte sich über ihm an einem Regalbrett ab. Wie eine Wand schirmte er ihn vor den Blicken anderer Besucher ab, sie bildeten ihre eigene kleine Nische.

Vlesk spürte die Buchrücken an seinem Hinterkopf als er den Kopf in den Nacken legte, um Kutcher ins Gesicht sehen zu können und schilderte ihm im Flüsterton sein abenteuerliches Erlebnis, das sich vielleicht auch in einer Felsspalte in den Bergen zugetragen haben könnte. Kutcher hörte ihm lächelnd zu. Später, wenn sie dann genug Bücher gefunden hatten, könnten sie durch den Park laufen und sich noch in ein Café setzen und Kaffee und Croissants bestellen; das Wetter war schön.

Doch als Vlesk sich versuchte vorzustellen, wie die Sonne durch die großen Fenster der Bibliothek schien, verblasste das Bild vor seinen Augen. In der Realität wartete kein Park oder Café auf sie. Und auf der Bodenstation Polus II schien auch keine Sonne.

Sie waren immer noch in Admin, an ein Bücherregal neben dem Admintable gelehnt. Sein abenteuerliches Erlebnis hatte sich natürlich nicht irgendwo in den Bergen zugetragen, sondern in dem schmalen Gang um die Ecke, und Kutcher hörte ihm nicht lächelnd sondern fortwährend ernst zu.

Immerhin roch es wirklich nach Büchern. Vlesk wunderte sich immer noch, dass der Raum nicht die Bibliothek genannt wurde, denn er war vollgestopft mit Büchern. An fast allen Wänden waren Regale angebracht, Bücher lagen auf dem Boden herum und auch auf dem Admintable stapelten sich welche.

Nachdem Kutcher ihm mit dem Aufräumen geholfen hatte, hatte Vlesk seinen Anzug weggebracht, während Kutcher geduldig in Admin auf die Story wartete. Jetzt war Vlesk fertig und sie dachten nach.

Nebenan im Gemeinschaftsraum stritten sich die anderen leise bei einem Würfelspiel und ihr undeutliches Gemurmel und Klappern bildete die Geräuschkulisse. Noch jemand war zwischen den Bücherregalen unterwegs und das Blättern von Seiten mischte sich unter die Satzfetzen. Dunkelbraune Haare schimmerten zwischen den Büchern hindurch und die Lampen warfen einen zierlichen, schmalen Schatten; Baso. Vlesk warf einen Blick zu dem Regal hinter dem sie stand, und als er zurück zu seinem Freund sah, hatte Kutcher die Augenbrauen hochgezogen. Er deutete mit dem Kinn in Basos Richtung und stupste Vlesk an.

Er gab sich gelassen als er er zu ihr herüber schlenderte, und doch fuhr sich nervös mit der Zunge über die trockenen Lippen. Weil er nicht wusste wohin mit seinen Händen, verschränkte er die Arme. Er räusperte sich. »Tut mir leid für das, was ich vorhin gesagt hab. Ich meinte das nicht so... Ich war nur sauer. Ich hätte das nicht an dir auslassen dürfen.«

»Mir tut es auch leid.« Baso nickte ernst. »Trotzdem war es leichtsinnig. Aber...«, sie zögerte kurz und senkte den Blick, »ich schätze, du musstest irgendwas tun; für ihn. Um nicht durchzudrehen. Hast du denn was rausgefunden?«

»Mhm. Da war wirklich ein Schacht, da bei den Toiletten, in der letzten Kabine, wo ich dir gezeigt habe. Es gibt drei weitere Ausgänge, aber der eine war verschlossen. Der zweite ist hier direkt neben dem Gebäude unterhalb des Wasserrads und der dritte ist dahinten.« Er zeigte in die Richtung des schmalen Raums, der nebenan lag. »Ich hab vom Labor bis hierhin – nicht ganz genau – hundertzweiundachtzig Sekunden gebraucht, also... an die drei Minuten.«

Dafür, dass er in Wirklichkeit nur ein paar Minuten durch die Tunnel gelaufen war, hatte es sich wie ein paar Stunden angefühlt.

Baso hielt ein zusammengefaltetes Blatt aus festem Karton hoch und lächelte versöhnlich, sogar ein bisschen verschwörerisch. »Schau mal, was ich gefunden habe.«

fast schon Blutmond // Among UsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt