Trente-cinq

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Der Rest der Alpine-Veranstaltung war zum Glück ohne besondere Vorkommnisse oder weitere Offenbarungen verlaufen und erst als ich abends zurück in meine Wohnung gekommen war und mich aufs Sofa gesetzt hatte, war mir klar geworden, dass all das wirklich geschehen war. Pierre kannte jetzt die Wahrheit über meine Lüge von damals und ich hatte keinen blassen Schimmer, was das in Zukunft für uns bedeuten würde.

Konnte er mir doch noch irgendwann verzeihen, dass ich ihm das angetan hatte? Und konnte ich ihm sein Handeln in Le Castellet und danach verzeihen? Konnten wir es tatsächlich schaffen, wieder sowas ähnliches wie Freunde zu werden?

In den folgenden Tagen dachte ich immer und immer wieder über all das nach, suchte in meinem Herzen zumindest noch einer Antwort auf die zweite Frage und fand letztendlich doch keine Lösung. Pierre hatte mir nie zuvor absichtlich weh getan und auch, wenn er zu diesem Zeitpunkt noch davon ausgegangen war, dass ich ihn betrogen hatte, war sein Verhalten eigentlich unverzeihlich.

Wie so oft, wenn ich nicht weiter wusste, telefonierte ich mit Coco und ersuchte ihren Rat, aber sogar sie wusste ausnahmsweise mal keine Lösung. Pierre zu verzeihen war keine bewusste Entscheidung, die ich treffen konnte, sondern mein Herz musste von seiner Verletzung heilen und dann würde ich wohl einfach wissen, ob ich ihm vergeben konnte. Und das war nunmal etwas, wobei mir meine Schwester nicht helfen konnte.

Bevor das passieren konnte, bekam ich am Wochenende nach der Alpine-Veranstaltung eine Reihe von WhatsApp-Nachrichten von einer Nummer, die ich nicht eingespeichert hatte und mit einem Inhalt, der mein Herz vor Aufregung wild zum Pochen brachte.

Hey Lou, hier ist Pierre.

Ich hab mir bei Esteban deine Nummer besorgt, ich hoffe das war okay.

Ich hab viel über unser Gespräch letzten Sonntag nachgedacht und würde mich gerne mit dir treffen, um das ganze noch zu vertiefen und einer möglichen Versöhnung vielleicht näher zu kommen.

Ich könnte es natürlich verstehen, wenn du nein sagst, aber falls du ja sagst, könnten wir uns von meiner Seite aus am besten am 31.10., also Montag in einer Woche treffen. Ich bin am Vormittag bei Alpine in Enstone und könnte mittags nach Paris fliegen, sodass wir uns nach deiner Arbeit treffen können.

Aber wie gesagt, ich hätte nach allem, was passiert ist, auch vollstes Verständnis dafür, wenn du dich nicht mit mir treffen möchtest.

Ich las die Nachrichten mehrmals hintereinander durch und trotzdem kam der Inhalt nur bruchstückhaft bei mir an und die ganze Situation wirkte surreal.

Dieses Wochenende war das Formel-1-Rennen in Austin, vermutlich hatte sich Pierre dort meine Nummer von Esteban besorgt. Zwar hatten die beiden ihre Ablehnung gegenüber einander weitestgehend begraben, trotzdem war es eine bemerkenswerte Geste, dass Pierre Esteban um meinetwillen um etwas gebeten hatte. Außerdem überraschte es mich ein wenig, dass Esteban mich nicht zuerst gefragt hatte, ob das okay war, aber ich hatte sowieso den Eindruck, dass er ein großer Fan davon war, dass Pierre und ich wieder mehr Kontakt hatten.

Ein weiteres Mal las ich mir die Nachricht durch, dann wurde mir klar, dass ich professionellen Rat brauchte und dafür kam nur eine Person in Betracht, also rief ich meine Schwester an, die schon nach wenigen Sekunden abhob.

"Hey Lou, schön, dass du anrufst", begrüßte sie mich fröhlich und brachte mich damit automatisch zum Lächeln.

"Hi Coco, ich hoffe ich störe nicht."

"Keine Sorge, ich hab gerade einen Kuchen in den Ofen geschoben und es mir auf dem Sofa bequem gemacht, also hast du mindestens 40 Minuten lang meine ungeteilte Aufmerksamkeit", antwortete sie, "Also, was gibts neues bei dir?"

"Pierre hat mir geschrieben."

"Was? Wann?"

"Eben gerade, vor fünf Minuten."

"Habt ihr letzte Woche Nummern ausgetauscht?"

"Nein, er hat Esteban gefragt."

"Wow, der Junge wird vernünftig. Und was hat er geschrieben?"

"Dass er viel über unser Gespräch letzten Sonntag nachgedacht hat und sich mit mir treffen will, um es weiterzuführen."

"Oh. Wie denkst du darüber?"

"Ich... ich hab keine Ahnung. Ein Teil von mir ist froh, dass er jetzt weiß, dass ich ihn nicht betrogen habe, der andere Teil denkt, dass er niemals die Wahrheit hätte erfahren dürfen. Ich weiß nicht, was ich machen soll, Coco. Mit jedem weiteren Treffen, jedem Gespräch, jeder Wahrheit kommt Pierre dem zweiten Geheimnis näher und das kann ich nicht riskieren."

"Aber?", fragte meine Schwester sofort und ich seufzte tief.

"Aber mein ganzer Körper ächzt nach ihm, jede Faser von mir sehnt sich nach einer Versöhnung. Als er mich gehasst hat und wir uns nicht gesehen haben, konnte ich meine Gefühle irgendwie im Zaum halten, aber das geht nicht mehr. Denn obwohl er mir in Le Castellet weh getan hat, liebe ich ihn. Obwohl so viel Zeit vergangen ist, liebe ich ihn. Und sich von jemandem fernzuhalten, den man liebt, ist unmöglich, wenn derjenige einen bittet sich zu treffen", gestand ich kraftlos.

"Also wirst du ihm zusagen?"

"Natürlich. Ich kann gar nicht anders."

"Und wirst du ihm die Wahrheit sagen? Ihm das zweite Geheimnis verraten?"

"Nein. Wenn er davon erfährt, wäre unsere Versöhnung niemals wieder möglich und es würde ihm das Herz brechen zu wissen, dass ich ihm das all die Jahre vorenthalten habe. Er würde sich ständig fragen, was gewesen wäre, wenn und das kann ich ihm nicht antun", antwortete ich entschlossen und hörte meine Schwester seufzen.

"Du weißt, dass ich das anders sehe, aber es ist deine Entscheidung."

"Und du weißt, dass sich das alles für mich immer noch anfühlt, als hätte es jemand anders erlebt. Die S- Diese Zeit, "korrigierte ich mich, "war komplett surreal und wahrscheinlich war es am besten so. Ich hab damit abgeschlossen und ich will Pierre nicht in die Lage bringen, dass er sich mit der Sache auseinandersetzen und sie dann auch abhaken muss. Du kennst ihn, das würde ihm unheimlich schwer fallen."

"Schon klar, aber... Na ja, vergiss es. Ich bin auf jeden Fall schon sehr gespannt darauf, wie euer Treffen verlaufen wird. Und apropos Treffen: Rate mal, wem ich gestern zufällig begegnet bin?"

Die nächsten zwanzig Minuten redete ich mit meiner Schwester über Belangloses, dann musste sie zu ihrem Kuchen zurück und wir legten auf. Einige Sekunden lang starrte ich auf den Bildschirm meines Handys, dann öffnete ich den Chat mit Pierre, atmete tief durch und begann zu tippen.

Hey, deine Nachricht hat mich ehrlich gesagt ziemlich überrascht. Ich arbeite am 31.10. bis 18 Uhr, danach können wir uns gerne treffen und reden.

Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt