Im Nachhinein hatte ich keine Ahnung, wie ich es schaffte nicht zusammenzubrechen.
Bei der Arbeit war ich mehr Roboter als Mensch, aber Jolies Nachfragen und ein paar besorgte bis mitleidige Blicke anderer Kollegen schmetterte ich mit Schmerzen und Müdigkeit wegen der Medikamente ab. Natürlich hatte die Müdigkeit nichts mit dem Schmerzmittel, sondern mit der Tatsache zu tun, dass ich nicht schlafen konnte.
Entweder träumte ich von dem Unfall oder von meiner Auseinandersetzung mit Pierre oder von irgendwelchen Momenten meiner Schwangerschaft und all diese Träume endeten damit, dass ich völlig durchgeschwitzt aufschreckte und anschließend nicht mehr einschlafen wollte.
Das Telefonat mit Coco verhinderte ich täglich mit irgendwelchen Ausreden, von Überstunden bis Abendessen mit Kollegen oder leerem Akku hatte ich allerdings nach einer knappen Woche so ziemlich alles ausgespielt und ging schließlich dazu über, ihre Anrufe einfach zu ignorieren und ihre Nachrichten nur noch wortkarg und ausweichend zu beantworten, wenn überhaupt.
Aber ich hatte meine Schwester unterschätzt.
Nachdem ich meine erste volle Arbeitswoche hinter mich gebracht hatte, hatte ich mich am Freitag gegen Schmerzmittel und für eine Flasche Wein entschieden, die es mir tatsächlich ermöglichte ein- und durchzuschlafen. Als ich samstags jedoch von energischem Klingeln geweckt wurde, stellte ich fest, dass die pochenden Kopfschmerzen, die ich hatte, den Schlaf nicht wert gewesen waren.
Weil das Klingeln nicht aufhörte, schälte ich mich irgendwann grummelnd aus meiner Bettdecke und tapste zur Wohnungstür, neben der sich die Freisprechanlage für die Haustür befand.
"Ja?", nuschelte ich verschlafen und zuckte zusammen, als ich zu meiner Überraschung Cocos Stimme hörte.
"Schön, du lebst also noch. Lass mich rein."
Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken sie zu ignorieren und zurück ins Bett zu gehen, aber ich traute meiner Schwester durchaus zu, dass sie sich dann auf anderem Wege Zutritt zu meiner Wohnung verschaffen würde und davor hatte ich ehrlich gesagt ziemlich Angst. Also drückte ich den Knopf für den Summer und hörte, wie unten die Haustür geöffnet wurde, dann erklangen energische Schritte auf der Treppe.
Ich atmete ein letztes Mal tief durch, dann öffnete ich die Tür zu meiner Wohnung und sah zum Treppenhaus, wo in diesem Moment der Kopf meiner Schwester auftauchte. Ihre Miene war grimmig verzogen, aber ich wusste, dass sie in erster Linie besorgt war. Als sie vor mir stand, sagte keine von uns ein Wort, stattdessen machte ich einfach nur einen Schritt zur Seite und ließ Coco in die Wohnung.
Ich hatte Angst davor den Mund aufzumachen und zu reden, weil ich befürchtete, dass dann alles aus mir heraussprudeln und ich weinen würde ohne aufhören zu können. Also schwieg ich und beobachtete, wie Coco sich in meinem chaotischen Wohnzimmer umsah. Ich hatte nicht die Kraft gehabt aufzuräumen, all meine Reserven brauchte ich, um die Arbeitstage und das letzte Wochenende durchzustehen und so sah es leider nicht nur im Wohnzimmer, sondern in der gesamten Wohnung aus.
Meine Schwester musterte jeden Winkel des Raums, dann drehte sie sich zu mir um und zuckte die Schultern.
"Also, wirst du mir jetzt endlich sagen was los ist? Du ignorierst meine Anrufe und den Großteil meiner Nachrichten, hier sieht es aus als wärst du auf dem besten Weg ein Messie zu werden und auch Maman und Papa haben seit zwei Wochen nichts von dir gehört."
Angespannt presste ich die Lippen aufeinander und senkte den Blick, aber das gefiel meiner Schwester gar nicht.
"Schau mich an, Lou. Schau mir in die Augen und rede endlich mit mir, weil ich mir verdammt nochmal Sorgen um dich mache! Als wir das letzte Mal telefoniert haben, war Pierre hier und hat sich liebevoll um dich gekümmert und ich war mir sicher, dass du mir bei deinem nächsten Anruf erzählen würdest, dass ihr wieder zusammen seid. Aber das ist nicht passiert, er ist wieder in Italien und von dir kommt gar nichts, also ist meine Vorstellung irgendwo von der Realität verändert worden. Nur wo? Und wieso redest du nicht mit mir darüber?"
Ich spürte wie mir Tränen in die Augen schossen, doch ich blinzelte sie angestrengt weg, so wie ich es schon seit eineinhalb Wochen tat. Aber meiner Schwester entging das natürlich nicht und ihr Blick wurde sofort sanfter.
"Lou... Bitte erzähl mir was passiert ist."
Sie machte einige Schritte auf mich zu, aber ich wich automatisch zurück und schüttelte den Kopf.
"Nicht", brachte ich krächzend hervor.
"Wieso nicht? Ich will dich doch nur in den Arm nehmen", sagte Coco verzweifelt und ich spürte, wie ihre Verzweiflung auf mich überging.
"Ich weiß, aber... ich kann nicht. Deine Umarmung ist wie das Bett und das Sofa und sein verdammter Hoodie, den ich immer noch habe, es ist zu weich. Und wenn sich etwas zu weich und gut anfühlt, dann muss ich weinen und dann werde ich nicht mehr aufhören können, aber ich... ich kann... ich kann nicht mehr weinen, ich hab keine Kraft mehr dafür", brachte ich stockend hervor.
"Oh Lou", entfuhr es meiner Schwester mitleidig und sie legte ein wenig den Kopf schief, "Was ist nur passiert?"
"Er ist weg. Ich hab alles kaputt gemacht."
"Aber wie? Er hat dir gesagt, dass er dich liebt und dass er dir verzeiht und ich hatte das Gefühl, dass du wirklich wieder mit ihm zusammen sein willst. Also was ist- Oh mein Gott", unterbrach meine Schwester sich selbst und ihre Augen wurden riesengroß, "Du hast es ihm erzählt, nicht wahr? Du hast ihm von dem Baby erzählt."
Mit Tränen in den Augen nickte ich, im nächsten Moment entfuhr mir ein erstes gequältes Schluchzen, auf das sogleich das nächste folgte. Mein ganzer Körper begann zu beben und ich spürte, wie meine Knie versagten. Nur Sekunden bevor ich den Boden berührte, hatte Coco mich erreicht und schlang ihre Arme um mich, sodass wir nebeneinander auf dem Teppich hockten während ich bitterlich in ihren Pullover weinte.
All die Gefühle, die ich in den letzten eineinhalb Wochen unterdrückt hatte, bahnten sich krachend ihren Weg nach draußen und ich konnte nichts dagegen tun, es nicht verhindern oder aufhalten. Die Geräusche, die meinen Mund verließen klangen mehr nach erstickten Schmerzensschreien als nach Schluchzern, aber ich ließ es einfach geschehen, weil ich sowieso keine Kontrolle mehr über mich hatte.
Ich schrie und weinte, schluchzte und zitterte, wimmerte und bebte und selbst als schon keine Tränen mehr aus meinen Augen liefen, konnte ich nicht damit aufhören. Eine gefühlte Ewigkeit hing ich einfach nur wie ein nasser Sack in den Armen meiner Schwester bis mich irgendwann endgültig die Kraft verließ und ich immer leiser wurde bis mir schließlich die Stimme versagte.
Erschöpft und dehydriert löste ich mich von Coco und ließ mich von meinen Knien auf meinen Hintern sinken, dann atmete ich tief durch und schaute sie einfach nur mit brennenden Augen an. Einen Augenblick lang sahen wir uns einfach nur schweigend an, dann stand sie vorsichtig auf.
"Ich geh dir ein Glas Wasser holen, du musst was trinken."
Ich nickte bloß und blieb sitzen. Als Coco kurz darauf mit dem Wasser wiederkam, trank ich das Glas in wenigen Zügen leer, bevor ich es mit zittrigen Fingern neben mir abstellte.
"Du weißt, dass du solche Dinge nicht in dich hineinfressen musst, Lou. Du hättest mich jederzeit anrufen können", murmelte meine Schwester und seufzte, was ich mit einem schwachen Nicken quittierte.
"Ich... ich hab's nicht geschafft. Ich dachte, wenn ich einfach so tue, als ob das alles nicht passiert wäre, würde ich besser damit klarkommen. Aber ich komme kein bisschen klar. Alles ist so... furchtbar. Und es ist meine Schuld, alles ist meine Schuld. Wenn ich es Pierre schon bei unserer ersten oder zweiten Aussprache gesagt hätte, dann-"
"Dann hätte es ihn trotzdem verletzt. Du musst ihm Zeit geben, um es zu verarbeiten Lou. Er hat innerhalb der letzten paar Monate erfahren, dass er fast sechs Jahre lang eine Lüge geglaubt hat. Alles, was er zu wissen geglaubt hat, ist in sich zusammengefallen wie ein Kartenhaus und jetzt muss er erstmal rausfinden, welche Karten echt waren und welche er benutzen kann, um das Haus neu aufzubauen."
"Was, wenn er mir das wirklich niemals verzeiht? Ich könnte es ihm nichtmal verdenken", entfuhr es mir mit einem bitteren Unterton.
"Er liebt dich. Er liebt dich seit fast 15 Jahren und auch wenn du ihn in dieser Zeit mehrmals verletzt hast, ist er verrückt nach dir. Ihr wolltet heiraten Lou, Pierre wollte den Rest seines Lebens mit dir verbringen. Sowas vergisst man nicht, auch wenn man verletzt wurde. Und ich glaube immer noch fest daran, dass ihr füreinander bestimmt seid", sagte Coco entschlossen, woraufhin ich sie verzweifelt ansah.
"Ich denke nicht, dass Pierre das genauso sieht."
DU LIEST GERADE
Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.
FanfictionEine alte Halskette, ein neues Hochzeitskleid, ein geborgtes Paar Schuhe und eine blaue Blume im Brautstrauß. Das war der Plan, so hätte es damals laufen sollen. Aber stattdessen kam alles anders und fünf Jahre später stehe ich hier und das Schicksa...