Cinquante-sept

596 43 8
                                    

Beinahe ungläubig schaute ich zur Seite und musterte Pierre, der neben mir saß und aus dem Fenster des Taxis die Umgebung musterte. Die ganze Situation fühlte sich wie ein Traum an, als sei das alles nicht real. Es konnte nicht real sein, oder?

Pierre war vor meiner Tür aufgetaucht, hatte mir verziehen und mich dann eingeladen, mit ihm nach Italien zu fliegen, um dort die verbleibenden Tage bis Silvester zu verbringen. Und was hatte ich getan? Ich hatte ja gesagt, schnell einen Koffer gepackt und war mit ihm gegangen.

Und jetzt saßen wir im Taxi auf dem Weg vom Flughafen zu Pierres Haus und ich versuchte zu begreifen, wie sich mein Leben innerhalb weniger Stunden so unglaublich hatte ändern können.

Am Nachmittag war ich noch förmlich an meinem gebrochenen Herzen erstickt, hatte geweint und nicht geglaubt, dass ich jemals wieder glücklich sein könnte. Ich wusste, dass ich einige schlimme, unvereinbare Fehler gemacht und meine große Liebe damit sehr verletzt hatte. Und ein Teil von mir hatte sich damit abgefunden, dass ich niemals wieder jemanden so lieben würde wie Pierre und deshalb für den Rest meines Lebens allein bleiben würde.

Doch dann war alles angekommen. Und ich konnte mein Glück kaum fassen.

Mit Freudentränen in den Augen musterte ich die Lichter der Laternen, die vor dem Taxifenster nur so dahinflogen, dann hielten wir irgendwann und mir klappte die Kinnlade nach unten.

"Hier wohnst du? Das ist eher eine Villa als ein Haus."

"Einigen wir uns darauf, dass es ein großes Haus ist. Ich brauche eben verschiedene Räume für verschiedene Dinge, habe häufig irgendwelche Freunde oder meinen Trainer zu Besuch und außerdem-"

Er stockte und ich sah ihn neugierig an.

"Außerdem?"

Er erwiderte meinen Blick mit einem liebevollen Lächeln.

"Außerdem hab ich immer gehofft, dass ich hier eines Tages mit der Liebe meines Lebens wohnen würde."

Seine Worte ließen mich sein Lächeln erwidern, dann stiegen wir aus, bezahlten den Taxifahrer und traten durch das schmiedeeiserne Eingangstor. Der Weg zur Haustür wurde von kleinen Blumen gesäumt, zwischen denen immer wieder Laternen standen, damit man sehen konnte, wohin man trat. Das Haus selbst war, soweit ich es im schummrigen Nachtlicht erkennen konnte, sandfarben und hatte viele große Fenster.

Schmunzelnd schloss Pierre die Haustür auf und deaktivierte die Alarmanlage, dann hielt er mir die Tür auf und zwinkerte mir zu.

"Hereinspaziert."

Ich folgte der Aufforderung und als Pierre den Lichtschalter betätigte, klappte mir ein weiteres Mal innerhalb kürzester Zeit die Kinnlade herunter, denn an den Wänden im Flur hingen - fein säuberlich in Rahmen - Bilder, die ich gemalt hatte. Von Pierre auf dem Podium, vom Sonnenuntergang an seiner alten Kartstrecke und viele mehr.

"Du hast sie aufgehängt", brachte ich flüsternd hervor, weil ich meiner Stimme nicht traute.

"Ja, ich hab diese Bilder immer geliebt und ich wollte sie nicht in irgendeiner Schublade verstauben lassen."

"Ich bin immer davon ausgegangen, dass du sie weggeschmissen hast."

"Ich hätte sie beinahe verbrannt, aber Maman hat sie davor bewahrt und dafür werde ich ihr ewig dankbar sein. Aber keine Sorge, ich hab noch genug freie Wände, an denen du dich austoben kannst."

Er zwinkerte mir zu, nahm mir die Jacke ab und sobald wir uns von unseren Schuhen befreit hatten, ließen wir das Gepäck erstmal stehen und ich bekam eine Hausführung. Vom Flur kam man ins Wohnzimmer, das neben seiner schlichten, aber stilvollen Einrichtung besonders durch die gigantische Fensterfront beeindruckte. Ich konnte in der draußen herrschenden Dunkelheit die Terrasse und den Garten erahnen, die man von hier aus wohl erreichte, dann führte Pierre mich in die Küche, wo er mir sogleich versprach, am nächsten Morgen ein ganz besonderes Frühstück zu machen mit all den Dingen, die ich gern hatte.

Nachdem ich mir auch noch das Gästebad, den Abstellraum und die Treppe zum Keller hatte zeigen lassen, schnappte Pierre sich meinen Koffer und unsere Rucksäcke und wir gingen hoch in den ersten Stock. Hier befanden sich neben einem Gästezimmer und einem Fitnessraum insbesondere das Schlaf- und Badezimmer.

Beides war schlicht gehalten, sodass mir das von mir gemalte Bild im Schlafzimmer umso mehr auffiel. Es zeigte den Strand, an dem Pierre mir damals den Heiratsantrag gemacht hatte und ich war mehr als überrascht, dass er ausgerechnet dieses Bild gewählt hatte, um es über sein Bett zu hängen.

"Wieso dieses Bild?", fragte ich also, während ich meinen Koffer neben den Kleiderschrank rollte.

"Egal, was danach passiert ist, unser Urlaub dort und der Tag, an dem du gesagt hast, dass du mich heiraten willst, sind trotz allem eine meiner schönsten Erinnerungen. Wenn ich das Bild anschaue, ist es immer ein wenig so, als ob ich wieder dort wäre und empfinde, was ich dort empfunden habe."

Nachdenklich musterte ich das Bild und spürte, wie meine Brust sich zusammenzog. Mein Gefühlschaos blieb nicht unbemerkt.

"Wir können ein anderes hinhängen, wenn du dieses nicht hier haben möchtest", bot Pierre an und ich zögerte einen Moment, bevor ich entschlossen den Kopf schüttelte.

"Nein, lass es hängen. Noch löst es bei mir negative Gefühle aus, aber ich möchte, dass es bei dir dieselben Erinnerungen wachruft wie bei dir und dafür muss ich es vielleicht einfach öfter sehen. Und du musst mich immer wieder daran erinnern, was es dir bedeutet."

Lächelnd kam Pierre zu mir und legte von hinten seine Arme um mich.

"Ich werde dich immer wieder daran erinnern, welche Bedeutung es für mich hat, versprochen."

"Gut", flüsterte ich zufrieden, dann schloss ich die Augen und lehnte mich gegen Pierre.

Eine Zeit lang schwiegen wir und standen einfach nur da, ich in seinen Armen, genau dort, wo ich hingehörte. Irgendwann seufzte ich leise.

"Wenn das hier ein Traum ist, dann möchte ich nie wieder geweckt werden."

"Keine Sorge, es ist real. Wir sind hier, zusammen. Das ist alles, was zählt."

Lächelnd schlug ich die Augen auf und drehte mich in Pierres Umarmung um, sodass ich ihn direkt ansehen konnte. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt und ich konnte nicht verhindern, dass ich seinen Augen versank.

"Ich hab Angst, dass ich es wieder verbocken und dich verlieren werde", brachte ich mit heiserer Stimme hervor und spürte, wie Tränen hinter meinen Augen zu stechen begannen.

"Das wirst du nicht. Du wirst Fehler machen, bestimmt, aber ich werde auch welche machen. Wichtig ist, dass wir ehrlich zueinander sind und uns gegenseitig verzeihen. Ich will niemals neben dir einschlafen ohne alles aus der Welt geschafft zu haben, was den Tag über zwischen uns gestanden hat. Ich verlange nicht von dir, mich nie wieder zu verletzen, denn so funktioniert eine Beziehung nicht. Es kann immer passieren, dass man etwas sagt oder tut, was den anderen verletzt. Aber ich verlange von dir, dass du mir die Wahrheit sagst und zulässt, dass ich mir selbst darüber klar werde wie ich etwas finde statt dass du dir den Kopf darüber zerbrichst, wie ich deiner Meinung nach wohl reagieren werde."

Seine Worte ließen meine Mundwinkel ein wenig nach oben zucken.

"Du kennst mich wirklich gut."

"Nach so viel gemeinsam verbrachter Zeit? Natürlich. Also versprichst du's mir? Ab jetzt keine Geheimnisse mehr, nichts mehr tun, was du für das Beste für mich hältst ohne mit mir darüber gesprochen zu haben. Sei nicht mehr Dobby."

Verwirrt starrte ich Pierre an.

"Was?"

"Bei Harry Potter gibt es im zweiten Teil einen Hauselfen, der glaubt, dass Harry in Gefahr ist und ihm das Leben retten will. Aber dafür lässt er sich lauter Sachen einfallen, die Harry noch viel mehr gefährden. Dobby will nur das Beste für Harry, aber dass er die Sache in die eigene Hand nimmt, macht alles nur schlimmer", erklärte Pierre schmunzelnd und ich konnte nicht anders, als ebenfalls kurz zu grinsen.

"Ziemlich guter Vergleich. Also schön Harry, ich verspreche dir, nicht mehr Dobby zu sein."

"Sehr gut", antwortete Pierre zufrieden, ehe er mich noch ein wenig fester an sich zog und seine Lippen auf meine legte, um sie zu einem Kuss zu verbinden, der von mir aus für immer hätte dauern können.

Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt