Kapitel IX

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„Also gut. Von mir aus. Aber nur solange, bis ich einen Weg finde wieder nach Hause zu gelangen oder die Lurianische Behörde mich abholen kommt.", entgegnete sie mir nach gefühlten Stunden.

Mein Herz machte Saltos und Luftsprünge. Zum einen, da ich endlich von hier verschwinden konnte und zum anderen, dass Cleona sich auf meine Idee eingelassen hatte.

Demzufolge packte ich auf schnellstem Wege Sugars Leinen-Handschlaufe und Cleona gliederte sich fügsam in unsere Reihe ein.

Wir hatten unglaubliches Glück den Waldweg wiedergefunden zu haben. Ich hoffte zumindest, dass es der Richtige war. Und das war er auch, wie es sich später herausstellte, als ich vom Weiten die Felder erspähen konnte.

Jetzt hatte ich die Ursache für die Herkunft der Lichter gefunden. Es war kein Insektenschwarm, der da neben mir lief. Nein, es war etwas viel Besseres.

„Wie soll ich dich eigentlich nennen?", erkundigte Cleona sich nach einer Weile der Schweigsamkeit. Oh Gott, stimmt ja. Sie kannte noch nicht einmal meinen Namen.

„Scarlett. Meine Freunde haben mir aber auch den unspektakulären Spitznamen Scar gegeben. Die Entscheidung liegt bei dir.", grinste ich.

„Okay, Scarlett.", lachte sie. „Es tut mir leid wegen vorhin. Ich wollte dir nicht wehtun. Du scheinst in Ordnung zu sein für eine Erdenbewohnerin."

Nun musste ich schmunzeln. Zunächst dachte ich sie wäre eine harte Persönlichkeit, doch allem Anschein nach verfügte sie also auch über einen weichen Kern. Damit konnte ich beachtlich besser umgehen.

„Das macht nichts. Weißt du, nichtsdestotrotz ist es für mich schwer zu glauben, dass du von einem anderen Planeten stammen sollst.", gab ich kleinlaut zu. Sie hatte Recht darauf zu erfahren, dass ich ihr nicht voll und ganz meine Überzeugung abtrat.

„Dann werde ich dich solange zum Staunen bringen, bis du mich anbetteln wirst nach Luria ziehen zu können." Cleona schnippte mit ihren Fingern und ihr merkwürdiger, silberner Haarschopf verwandelte sich binnen Sekunden zu einer langen, hellblonden Mähne.

Verblüfft blieb ich stehen. Verdammt. Das war so dermaßen unglaublich. Langsam bereitete es mir Gefallen daran in einen erstaunten Zustand versetzt zu werden. Ich wollte mehr dieser Tricks sehen. Sie schreiten fast schon nach einer gründlichen Erforschung.

„Wenn ich dich so mit mir vergleiche, dann bin ich hier mit meinem zongolischen Anzug ja total fehl am Platz.", schlussfolgerte sie laut und platzierte ihre Hände überkreuzt auf der Brust. Ich verstand nicht, was sie sagte, denn die folgenden Worte nuschelte sie so unverständlich, dass sie kaum hörbar waren.

Ihr gesamter Körper unterhalb des Kopfes begann violett zu leuchten. Aus allen Wolken gefallen fasste ich mir an die Stirn und verfolgte jeden auch noch so winzigen Schritt ihres beispiellosen Kleidungs-Wechsels.

Unübersehbar nahm sie sich meinen Jogging-Anzug als materielles Vorbild. Diesen trug sie jetzt nämlich in pechschwarzer Farbe kombiniert mit auffallenden Sneakers. Von diesem Moment an wirkte sie wie ein gewöhnliches Teenager-Mädchen. Selbst ihre Lippen verloren den silbernen Glanz und bekamen ein unschuldiges Rosa verpasst.

Anscheinend war ich zu sehr mit starrem Gaffen beschäftigt gewesen, dass ich nicht einmal realisierte wie mein Handy pausenlos zu klingeln begann, bis Cleona mich vorsichtig darauf hinwies.

Wie versteinert nahm ich den Anruf entgegen. Ich warf nicht mal einen flüchtigen Blick auf das Display, um meinen derzeitigen Gesprächspartner zu entziffern. Das war sonst so gar nicht meine Art.

„Scarlett hier?", murmelte ich nach wie vor im abwesenden Zustand.

„SCARLETT!? WO BIST DU? Wir wollten eben schon die Polizei anrufen! Was glaubst du welche Sorgen wir uns gemacht haben?! Wieso bist du nicht rangegangen? Wo hältst du dich auf? Dein Vater sucht schon die halbe Stadt nach dir ab!", vernahm ich die schluchzende Stimme meiner Mutter aus der anderen Leitung. Mir war bewusst, dass es nicht möglich war, solch einer Situation aus dem Weg zu gehen. Die Wahrheit konnte ich ihr einfach nicht sagen. Es ging nicht.

„Mama, beruhige dich! Mir geht es gut. Ich habe eben noch eine...Freundin...getroffen. Das hat sich alles zufällig ergeben. Ich bin gerade mit ihr auf dem Nachhauseweg.", informierte ich sie und erlangte Gott sei Dank meine Beherrschung wieder.

„Dann hättest du uns Bescheid geben sollen!", warf sie mir nun vor, was ich natürlich verstehen konnte. Ich sollte lieber keinen Streit mir ihr anzetteln, ansonsten würde sie nie im Leben erlauben, dass Cleona bei uns ‚übernachten' durfte. Aber normalerweise war meine Mutter unheimlich locker in solchen Dingen. Mein Vater erst recht.

Danas komisch Gestalten-Freunde gingen ja schließlich ebenfalls tagtäglich ein und aus bei uns. Wieso sollte ich dann nicht genauso mal jemanden übernachten lassen? Selbst wenn meine Eltern Cleona bis dato nicht kannten. Zwar tat ich das auch nicht so wirklich, aber mit jedem Zaubertrick mehr, den sie mir vorführte schenkte ich ihr zugleich als Belohnung ein wenig ‚scarlettischen' Glauben dazu.

Ich war Feuer und Flamme für sie und ihr Können. Und das im Laufe einer Nacht.

„Mein Handy war aus.", setzte ich meine Mutter in Kenntnis. „Aber Mama, ich bin gleich da, in Ordnung? Wir reden zu Hause weiter.", fuhr ich fort, zwecks sie abzuwimmeln.

So verändert wie ich war, ließ ich ihr nicht einmal die Zeit, um mir eine Antwort zu geben. Bedenkenlos legte ich ohne viel Brimborium auf.

Ich war beeindruckt von Cleonas neuem Aussehen. Den ganzen Heimweg lang über schwebte mir ihr Verwandlungs-Augenblick von vorhin im Kopf. Dieses violette Licht. Es war mehr als nur atemberaubend.

Kurz vor der Haustüre veranschaulichte ich Cleona nochmals detailliert meinen Plan. Das Konzept, welches mir einfach so als erstbestes eingefallen war.

Sie verstand mein Vorhaben blitzschnell und zwar bemerkenswert temporeicher als so manch anderer es tun würde.

Mein Unterbewusstsein konnte noch immer nicht glauben, dass ich wortwörtlich jemand Fremdes Eintritt in unser Haus gewährte. Doch mein bewusstes Ich war Cleona in jeder Hinsicht verfallen. Was hätten Brown, Darwin und Mendel getan? Wie hätten sie gehandelt? All diese großen Namen. All diese großen Männer.

In unserem Haus brannten die Lichter. Anders wie regulär um diese Uhrzeit, denn bald würden die Glocken der Kirche läuten. Es war kurz vor Mitternacht.

Bereit zur Durchführung unseres Vorhabens, schob ich den Schlüssel in das Loch hinein, drehte ihn um und drückte die Klinke hinunter.

„Einen interessanten Mechanismus habt ihr da.", bemerkte Cleona und betatschte verwundert den Türrahmen, als wäre es das Außergewöhnlichste der Welt.

Augenrollend musste ich ungeahnte Maßnahmen ergreifen. „Komm!" Ich zog sie an ihrem Arm in den Flur und schloss die Tür hinter uns.

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