Kapitel X

26 3 0
                                    

„MAMA? PAPA?", brüllte ich in die Leere, während ich Sugar von der Leine befreite und sie erlöst von diesem Tag durch das Haus streifen ließ.

„Kind! Da bist du ja endlich!" Meine Mutter kam wie aufs Stichwort aus dem Wohnzimmer raus gestürmt und steuerte mich zielstrebig an. Dabei ignorierte sie Cleona aufs Höchste.

„Wer bist du denn?", reagierte sie nach einer innigen Umarmung auf die für sie Fremde.

„Mama? Darf ich vorstellen? Das ist Cleona. Sie ist eine neue Schülerin und geht seit ein paar Tagen in meine Klasse. Sie kommt aus...aus Frankreich. Ich habe sie vorhin auf der Marktstraße getroffen, als sie sich verirrt hatte. Sie ist ja auch schließlich neu hier. Und da ich ihr geholfen habe nach Hause zu finden, hat sie mich spontan auf einen Kaffee ins Paradiso eingeladen. Ein wirklich anständiges Mädchen.", log ich ihr ohne mit der Wimper zu Zucken vor. Ich war mir sicher, dass sie diese Unwahrheit schlucken würde. Immerhin war ich Mitglied der Theater-AG. Schauspielen hatte ich drauf, auch wenn ich ungeheuer selten davon Gebrauch machte und es in Wirklichkeit verabscheute.

Nun fing sie an Cleona gründlich zu beäugen. Diese reagierte letzten Endes wie zuvor ausgemacht.

„Hallo! Ich bin Cleona und freue mich Sie kennenlernen zu dürfen!"

Okay, sie war wirklich überhauptnicht darstellerisch begabt. Das erkannte ich allein schon an ihrem Versuch sich ein freundliches Lächeln aufzuzwingen, was in einer offensichtlich zu dick aufgetragenen Zahnweißpräsentation endete.

Aber ich konnte von purem Glück reden, dass meine naive Mutter nichts von unserer kleinen ‚Intrige' zu merken schien.

„Schön Bekanntschaft mit dir zu machen! Willkommen in Klengau. Oder auch: Bienvenue à Klengau!", nahm meine Mutter sie mit einem Händeschütteln in unserer Stadt auf.

Cleona räusperte sich indessen und berührte mit der freien Hand ihren Hals, was ich mit einer gehobenen Augenbraue verfolgte.

„Bienvenue! C'est vraiment beau ici!", antwortete sie meiner Mutter sogleich mit einer perfekten französischen Aussprache.

Meine Kinnlade klappte entsetzt hinunter. Hatte das etwas mit diesem Universalübersetzer zu tun? Ich spürte einen unverzüglichen Anflug von Neid, den ich schnellstens beiseite schieben wollte.

Cleona wiederholte dasselbe Spielchen und fasste sich abermals an die Kehle. Höchstwahrscheinlich um ihr deutsches Vokabular zurückzuerlangen. Wieso schenkte ich so etwas Fantastischem nochmal meine Gewissheit? Ach ja, weil Cleona schlicht unfassbar war.

„Bei deinem Französisch kann ich ja gar nicht mithalten! Ach, ist das lang her, als ich zuletzt Gebrauch davon machen musste! Hm, 20 Jahre?", grübelte meine Mutter.

Ich konnte einzig hoffen, dass sie das jetzt nicht allzu vertiefen würde. Wenn sie von ihrer Vergangenheit plauderte, dann waren das ellenlange Geschichten, welche niemanden von uns interessierten. Auch wenn es hart ausgedrückt war, entsprach es dennoch der Tatsache.

„Jedenfalls", versuchte ich die Aufmerksamkeit erneut auf mich zu lenken, „wollte ich fragen, ob sie bei uns übernachten könnte, da sie furchtbare Probleme hat morgens zur Schule zu finden. Nur ausnahmsweise. Bitte Mama." Ohne groß nachzudenken setzte ich meinen berüchtigten Schmollmund auf, der Himmel sei Dank seinen Job mit Bravur erfüllte.

„Na gut. Dann sind wir ja heute schon sechs Personen hier im Haus.", lächelte sie.

Sechs Personen? Jetzt musste ich rechnen. Mama und Papa sind zwei, addiert mit Dana und mir ergeben vier. Dann nehmen wir noch eine Cleona dazu et Voilà kommen wir auf fünf. Weshalb also sechs?

„Ist noch jemand hier?", erkundete ich mich vorsichtig bei ihr.

„Danas Freundin Emilia. Sie wollte ebenfalls kurzfristig bei uns übernachten."

Als hätte ich es nicht schon geahnt. Diese Emilia übte einen ganz miesen Einfluss auf meine labile Schwester aus. Was sie wohl gerade tun würden? Bloody Mary rufen?

Tja, das war nichts im Vergleich zu dem, was ich heute am eigenen Leib erfahren durfte.

„Wissen deine Eltern überhaupt, dass du hier die Nacht verbringen willst?", wandte meine Mutter sich noch rechtzeitig an Cleona, ehe wir in meinem Zimmer verschwinden konnten.

„Ähm...sicher.", stockte sie.

„Okay, prima! Scarlett, ich werde dann gleich deinen Vater über das Geschehen informieren. Der ist vorhin fast an die Decke gegangen.", fügte die Erwachsene hinzu.

„Super, danke. Gute Nacht!" Ich warf ihr einen Luftkuss zu und führte Cleona in mein Zimmer.

Noch immer wunderte ich mich, dass sie nicht einen Kommentar dazu abgegeben hatte, dass die Fremde keine Tasche mit Schlafzeug in ihren Händen hielt. Vielleicht war sie auch nur so glücklich, dass mir nichts zugestoßen war. Eben daran könnte es liegen.

Cleona verschränkte die Arme und musterte das in der Dunkelheit versunkene Zimmer. „Ein bizarres Haus habt ihr."

„Bizarr?", fragte ich nach und betätigte den Lichtschalter. Noch eine für mich untypische Sache. Bald müsste ich eine Strichliste dafür anfertigen.

„Ja. In Luria befinden sich die Städte auf einzelnen, schwebenden Inseln. Die Häuser sind gigantisch und bestehen aus zongolischem Metall.", erzählte sie mir und nahm an der Kante meines Bettes Platz.

Das glich den Storys aus Andres Science-Fiction Romanen wie ein Ei dem anderen. Wäre er in meiner Situation, dann würde er sich mit Sicherheit so verhalten, als hätte Mona Mendelejew wie er leibt und lebt getroffen. Er wäre schnurstracks in Ohnmacht gefallen.

Als Entgegnung schenkte ich ihr lediglich ein schleppendes Nicken.

Ich war nach wie vor immens durcheinander. Wenn sie wirklich dieses Licht war, dann sollte ich sie gezielter darüber ausfragen. Weswegen wurden so viele über unserer Stadt gesichtet? Hatte das tatsächlich etwas mit ihr zu tun? Ausschließlich mit ihr? Wenn ja, aus welchem Grund?

Mit diesen Gedanken ließ ich mich auf meinem bequemen Schreibtischstuhl nieder und atmete tief durch.

„Cleona?", ging ich es behutsam an.

„Hm?", machte sie und baute unmittelbaren Augenkontakt auf.

„Warst du also zu hundert Prozent dieses Licht heute Nacht und bist praktisch vom Himmel gefallen?"

„Glaubst du mir immer noch nicht?", stöhnte sie. „Scarlett, wie viel muss ich denn noch bewegen ohne es anzurühren, damit du es tust?"

Bevor ich auch nur ansatzweise verstehen konnte, was sie mir soeben mitgeteilt hatte, richtete sie bereits ihren Arm aus und zielte geradlinig auf den Fernsehapparat vor ihr. Ein violetter Strahl schoss auf ihn zu und von einem Moment auf den anderen wurden alle Programme innerhalb von Millisekunden durchgezappt.

„Cooles Ding!", kommentierte sie lautstark.

Und ein weiteres Mal hatte sie es soweit gebracht, dass ich total geflasht vom Stuhl fiel. Ja, das war kein Scherz. Mit Schmerz verzogenem Gesicht hielt ich mir mein angeschlagenes Bein.

„Ist alles in Ordnung?", erkundigte Cleona sich mit schuldbewusster Stimme.

Schweren Herzens verdrängte ich den Schmerz und richtete mich tapfer auf. Das gab bestimmt einen blauen Fleck! Doch ich wollte den Moment keineswegs zerstören. Was ich forderte, war eine Antwort und keinen spukhaften Fernseher.

Wicked ScienceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt