Nach gut zwei Stunden droht mein Kopf zu zerplatzen.
Nikita hat mich zur Zentrale gebracht und dort bekam ich erst einmal eine Einweisung.
Jetzt habe ich eine skizzierte Karte der Zone. Ein Stück außerhalb der Mauern ist ebenfalls auf der Karte verzeichnet, aber ich soll vorerst nicht alleine raus.
Ich bin selbst erstaunt, wie sehr diese Anweisung eher nach einer Empfehlung als nach einem Verbot klang, aber ich bin nicht dumm. Ich weiß, dass ich als Neue erst mit Misstrauen beobachtet werde, bis ich mich beweisen kann oder lange genug eingelebt habe.Wenigstens hat man mir in Aussicht gestellt, dass sie meinen Wunsch berücksichtigen werden; als sie mich fragten, wie ich der Gemeinschaft helfen möchte, habe ich mich für den Außendienst entschieden.
Nun drehe ich den Schlüssel meiner baldigen Wohnung in meinen Fingern und werde von Nikita zu dem Wohnkomplex begleitet, zu dem er schon vorhin gezeigt hat.
Der Regen hat nachgelassen, aber dafür ist es bereits dunkel. Der Vollmond und die Sterne spenden uns jedoch genug Licht, sodass wir keine Taschenlampen benutzen müssen.
Mein Rücken kribbelt, als wenn ein Augenpaar auf mich gerichtet ist, aber als ich mich so beiläufig wie es geht umdrehe und umschaue, sehe ich weit und breit niemanden.
,,Jetzt, wo du eine von uns bist, kann ich dir etwas verraten, was dich bestimmt begeistern wird", sagt Nikita geheimnisvoll. Er trägt noch immer meine Reisetasche und es scheint ihm nichts auszumachen.
,,Und zwar?", hake ich neugierig nach und weiche geschickt ein paar Pfützen vor mir aus.
,,Du willst doch nach draußen, oder? Du willst dich nicht nützlich machen, indem du hier Pflanzen gießt und erntest, richtig?"
,,Richtig", antworte ich gedehnt.
Nikita grinst auf mich runter. ,,Es gibt hier auch einen Schwarzmarkt. Es ist sozusagen ein offenes Geheimnis. Wenn du etwas brauchst, musst du dort nur Bescheid geben und die besorgen es dir."
Ich runzle die Stirn. ,,Denkst du, ich könnte mich denen anschließen?"
,,Davon gehe ich stark aus, deswegen sage ich es dir ja. Joel sucht immer mal wieder zuverlässige Leute, die nicht zimperlich sind. Und ich habe dich vor Boston gesehen, du bist alles andere als zartbesaitet, auch wenn du nicht so aussiehst."
Seine Wangen färben sich rot und ich schmunzle. Nikita scheint noch nicht viele Erfahrungen mit Frauen zu haben..
,,Danke für das Kompliment."
Joel..
Der Name liegt weich in meinen Ohren, klebt sich aber sofort hartnäckig in meinen Gedanken fest.,,Vielleicht können wir dann auch mal zusammen rausgehen und uns Rückendeckung geben, so wie die letzten Tage", schlägt Nikita optimistisch vor.
,,Klar, warum nicht?"
Wir sind fast bei dem Haus angekommen, als ich frage:,,Wie kann ich denn diesen Joel kontaktieren?"
Nikita gluckst leise. ,,Er kontaktiert in der Regel dich, wenn er dich für brauchbar hält. Ich bin mir sicher, dass ihm schon aufgefallen ist, dass wir ein neues Mitglied haben."
,,Also soll ich einfach darauf warten, dass er mich irgendwann auf der Straße anspricht? Wie soll er denn sehen, was ich drauf habe, wenn ich nur innerhalb der Mauern bin?", brumme ich zweifelnd.
,,Naja, es würde nichts bringen, wenn ich jetzt versuchen würde, ihn dir zu beschreiben, Claire." Er zuckt lässig mit den Schultern. ,,Er sieht nämlich wie jeder durchschnittliche Mann in seinen Vierzigern aus. Groß, braune Haare, braune Augen."
Ich hebe die Augenbrauen. ,,Noch irgendwelche Merkmale? Hat er auffällige Narben oder Tattoos?"
Er reibt sich nachdenklich das Kinn und grinst mich wieder an. ,,Er ist sehr grumpy. Ohne Scheiß, er ist der mürrischste alte Mann in ganz Boston."
Ich erwidere sein Grinsen; nicht wegen seines Spruchs, sondern weil ich nach Ewigkeiten mal das Gefühl habe, voranzukommen. Und das, obwohl ich diesen Joel noch nicht kennengelernt habe. Vielleicht hält er mich ja für nutzlos. Dann stehe ich wieder ganz am Anfang und kann zusehen, was ich mache.
Aber soweit lasse ich es nicht kommen. Ich werde Joel beweisen, dass er eine gute Entscheidung treffen würde, wenn er mir eine Chance gibt.
,,Hat er sonst etwas an sich, das einem sofort auffällt?", stochere ich weiter, während wir in das Haus gehen und langsam die Treppen bis in den 4. Stock bewältigen.
,,Er trägt eine Uhr. Sie ist kaputt, aber er scheint an ihr zu hängen." Nikita zuckt mit den Achseln. ,,Aber wenn du die Tage mal mit mir unterwegs bist und wir ihn sehen, kann ich euch vorstellen."
Ich nicke leicht. ,,Okay, abgemacht."
Wir bleiben vor meiner Wohnungstür stehen. Ein großes '11' ist mit Sprühfarbe an die Tür gefärbt worden.
Nikita lässt meine Reisetasche los und überreicht sie mir. ,,Dann wünsche ich dir mal eine gute Nacht. Oder soll ich noch schnell mit reinkommen und checken, ob da drin alles sauber ist?"
Eine Spur von Hoffnung ist in seiner Stimme zu hören, aber ich schüttle lächelnd den Kopf. ,,Passt schon, Nikita. Komm gut nach Hause, okay?"
,,Na gut. Dann erhol dich. Wir sehen uns bald wieder."
Die Wohnung ist klein, aber für nur eine Person absolut ausreichend. Sobald man reinkommt, steht man im Wohnzimmer. Es ist spärlich eingerichtet; nur eine Zweisitzer-Couch, ein eckiger Tisch und ein kleines Regal stehen im Raum. Die Wände sind komplett kahl.
Ich beachte das Badezimmer nicht einmal, sondern werfe meine Tasche in eine Ecke des Schlafzimmers, streife mir meine Kleidung bis auf die Unterwäsche ab und lasse mich dann stöhnend ins Bett fallen.
Scheiße, bin ich fertig.
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wicked game
FanfictionJoel Miller hat nichts mehr. Sarah ist tot, Tommy ist fort gegangen und der Cordyceps-Pilz hat die ganze Welt überwuchert. Er ist nicht mehr der Joel, der er vor 10 Jahren war. Er hat Menschen kaltblütig getötet, all seine Moralvorstellungen gebroch...