Noch bevor ich die Augen aufschlage, merke ich, dass etwas nicht stimmt. Ich kann es förmlich in der Luft spüren.
Ich fühle eine Unruhe in mir, bei der sich meine Nackenhaare aufstellen.
Ich muss mich bewegen.Schnell schlage ich die Decke von mir, die ich mir in der Nacht offensichtlich irgendwann gegriffen haben muss, und laufe ins kleine Wohnzimmer.
Durch das gekippte, schmutzige Fenster zieht die frische, nach Regen riechende Luft in die Wohnung und lässt den Raum in einem matten Glühen erscheinen. Ich muss lächeln, weil ich nun wirklich ein neues Leben beginne.
Ich verbanne jeden Gedanken an meine Freunde, an Pennsylvania, den Schmerz, den ich mit diesem Ort verbinde. An meine ermordeten Eltern, die ich nicht retten konnte, weil ich die Hemmungen, diesen verdammten Abzug zu drücken, nicht überwinden konnte.
All das ist Geschichte.
Jetzt kann ich neue Freunde kennenlernen oder es einfach bleiben lassen.
Ich kann meine eigenen Entscheidungen treffen und werde vom Militär nicht mehr dazu verdonnert, wie eine alte Hausfrau in der Zone zu vergammeln, sondern werde - hoffentlich - nach draußen dürfen und mich dort nützlich machen können.
Auch, wenn ich noch nie jemanden getötet habe - was eigentlich ein Wunder heutzutage ist -, kann ich für die Gemeinschaft wichtig werden. Ich kann gut schleichen, Beute aus einem Haus holen, ohne dabei gehört oder gesehen zu werden und wieder verschwinden, als wäre ich nie dagewesen.
Mein Blick bleibt plötzlich an meinem Couchtisch hängen.
Ich starre den roten Apfel an, der darauf liegt.
Seltsam, lag der gestern Abend schon dort?
Anscheinend habe ich ihn einfach übersehen, weil ich zu müde war..
Ein Schaudern läuft mir über den Rücken, aber zugleich regt sich ein seltsames Kribbeln in mir und ich weiß nicht, woher diese Gefühle auf einmal kommen.
Mit einem leisen Lächeln nehme ich den Apfel in die Hand und esse mein erstes Frühstück in meiner neuen Wohnung. Danach mache ich mich frisch und ziehe mich an. Meine treuen Begleiter - zwei Pistolen und ein Messer - befestige ich jeweils an den Gurten um meine Schenkel. Ich habe bisher immer nur Zielübungen mit den Pistolen gemacht und auf Dosen geschossen, weil die Pistolen bis vor dem Tod meiner Eltern ihnen gehört haben. Aber zumindest weiß ich, wie man damit schießt, falls ich darauf mal angewiesen sein sollte.
Dann gehe ich nach draußen.Die Zone ist bereits zum Leben erwacht, während die Menschen sich auf den Straßen tummeln. Es ist ein brodelnder Ort voller Tatendrang, Überlebenswillen und.. Ausgelassenheit. Die Menschen sind gezeichnet von den Narben der Vergangenheit, aber sie sind auch voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Ich schlendere durch die Straßen, beobachte die Menschen, die ihren Geschäften nachgehen und mir hin und wieder skeptische Blicke zu werfen.
Die Händler bieten ihre Waren an, während die Bewohner verzweifelt versuchen, ihre täglichen Bedürfnisse zu decken. Es ist ein endloser Kampf um Ressourcen und Sicherheit.
Die Lebensmittelkarten in meiner Hand brennen mir fast ein Loch in die Haut, als ich die Verzweiflung in den Gesichtern anderer Bewohner sehe, die ihre Karten offenbar bereits aufgebraucht haben.
,,Claire!", ruft Nikita hinter mir.
Er joggt auf mich zu, mit einem breiten Grinsen im Gesicht und ich warte auf ihn.
,,Hi, Nikita."
,,Hast du gut geschlafen? Du bist ja früher wach, als ich es dir zugetraut hätte."
,,Ja, danke." Ich lächle leicht. ,,Ich brauche nicht so viel Schlaf."
,,Vielleicht warst du einfach noch nie erschöpft genug." Er hebt vielsagend die Augenbrauen und zwinkert mir zu.
Meine Wangen werden heiß und ich boxe ihn unbeholfen gegen den Oberarm. ,,Ach, sei doch ruhig."
Wir bleiben an einem kleinen Stand stehen, bei dem frisches Brot verkauft wird. Mein Magen knurrt leise, weil der Apfel zwar sehr lecker und süß war, aber nicht unbedingt sättigend.
Also kaufe ich einen Laib mit einer Lebensmittelkarte und Nikita kramt in seiner Tasche, um ebenfalls eine Karte zu zücken. Aber nach ein paar Sekunden seufzt er frustriert.
,,Was ist los?, frage ich neugierig.
,,Meine kleine Schwester hat mir meine Karten geklaut, dieses Biest." Er verdreht genervt die Augen und als ich meine Stirn runzle, erklärt er:,,Sie hat seit kurzem einen Freund und die beiden treffen sich ständig, um zu picknicken. Die beiden sind im Moment wahrscheinlich die größte Einnahmequelle für die Händler, aber dafür kann ich dann Extraschichten schieben, damit ich mir auch Essen kaufen kann."
Ich unterdrücke ein Kichern und beiße mir auf die Lippe. Wie schön es sein muss, verliebt zu sein und die Welt nur in rosa zu sehen.
,,Ich kann dir was leihen. Ich habe sowieso genug Karten bekommen", biete ich an.
Nikitas Augen werden ganz groß. ,,Das würdest du tun?"
,,Na klar."
Eine meiner Karten landet in seinen Händen und er lächelt mich erleichtert an..
..und dann beugt er sich schnell vor, um mir einen Kuss, so weich wie eine Feder, auf die Wange zu geben.
,,Vielen Dank, Claire! Ich wusste, dass du ein guter Mensch bist."
Sein Kuss war nicht der Rede wert und hat nicht mal ein Kribbeln in mir ausgelöst.. Aber plötzlich breitet sich eine unheimliche Kälte in meinem Magen aus, die sich rasend schnell in meinem ganzen Körper verbreitet.
Und mein Rücken kribbelt wieder so, als würde ich beobachtet werden..
,,Gern geschehen, Nikita", erwidere ich matt und versuche diese seltsame Aufregung zu verscheuchen..
Als ich mich langsam umdrehe, stolpert mein Herz überraschend.
Mein Blick begegnet einem Paar dunkelbrauner Augen. Ein gefährliches Blitzen in ihnen lässt mein Herz galoppieren, während der Mann mich ganz offen anstarrt.
Ich verspüre den Drang, meinen Blick zu senken, seinen Augen auszuweichen und mich zu ducken, um in der Menschenmenge zu verschwinden.
Meine innere Stimme schreit mich an, dass ich wegrennen soll.Dass dieser Mann der Tod selbst ist.
Aber ich kann mich nicht rühren.
Ich bin gefangen in dem Strudel seiner braunen Augen, in diesen fast schon bösartigen Emotionen, die er mir entgegen schleudert, als wären sie Steine.
Und dann schiebt sich eine Gruppe Bewohner zwischen uns. Keine drei Sekunden. Aber als ich den Blick des Mannes dann wieder erwidern will, ihm zeigen will, dass ich mich von ihm nicht einschüchtern lasse, ist er verschwunden.
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wicked game
FanfictionJoel Miller hat nichts mehr. Sarah ist tot, Tommy ist fort gegangen und der Cordyceps-Pilz hat die ganze Welt überwuchert. Er ist nicht mehr der Joel, der er vor 10 Jahren war. Er hat Menschen kaltblütig getötet, all seine Moralvorstellungen gebroch...