»LAVEA - TRÄUME«

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Ogre – 07. April 2001 – 5:46 Uhr

Die Szenen wirkten verstörend echt. Als würden Vision und Realität mit all ihren Emotionen verschmelzen. Furchterregende Bilder und eine herzzerreißende Stimme des Sterbens, gefolgt von einer stillen Einsamkeit, während es dunkel wurde, rissen Lavea aus dem Albtraum und sie fuhr mit pochendem Herz hoch. In einem Reflex tastete sie sich im Bett sitzend ab und rieb an dem schweißgebadeten Nachthemd, das an ihrer Haut klebte. Zum Glück war es nur ein Traum. Aber was für einer. Ein schrecklicher Albtraum.

Es dauerte einige Sekunden, bis sie wieder bewusst mit der Wirklichkeit Eins wurde. Eine Wirklichkeit, ganz nach ihrem Geschmack. Am Vorabend wurde es eine süße Realität, wie sie es nannte. Denn sie hatte es endlich geschafft: Ihr Debüt als Sängerin auf dem Konzert ihrer Eltern stand für den 08. September 2001 fest. Und es sollte sogar ihr Konzert werden, sagten ihre Mom und ihr Dad.

Diese Wirklichkeit vermischte sich in den letzten Stunden mit dem Konzert des Albtraums, von dem sie aus dem Schlaf gerissen wurde. Die bildgewaltigen und emotionsgeladenen Szenen hielten sie noch immer gefangen. Eindrückliche und unvergessliche Stimmen hallten sogar noch in ihren Ohren nach. Wie konnte sie die dritte Nacht in Folge von diesem Mädchen träumen und zudem als Fortsetzung der Ereignisse in den jeweiligen Nächten zuvor? Noch nie wurde sie drei Nächte lang hintereinander per Dauerschleife in einem Serien-Albtraum gefangen gehalten. Halt. Doch. Einmal. Nun kam es ihr wieder. Da war sie acht. Ein paar Tage vor dem Tod ihrer Eltern plagten sie Albträume. Darüber, wie sie sich in Luft auflösen. Zwei oder drei Nächte lang. Genau wusste sie es nicht mehr. Dem maß sie damals keine große Bedeutung bei. Und nun schon wieder. Da stimmte doch etwas nicht. Hoffentlich war es keine böse Vorahnung, dass ihren Adoptiveltern irgendetwas zustoßen würde. 

Doch nun begann die Aufzeichnung und sie wollte unbedingt aus dem sicheren Raum der Wirklichkeit noch einmal tief in diesen Traum eintauchen. Sie konnte zu jederzeit ihren Kopf aus dieser Finsternis herausziehen und erst einmal aus sicherem Abstand durchatmen. 

Wie in den vergangenen Tagen, schnappte sie sich schnell Stift und Notizblock, dass stets griffbereit auf dem Nachttischkästchen lag. Es galt, ein paar Eindrücke aufzuschreiben, bevor Einzelheiten dieses Traumkonstrukts verblassten, oder sich komplett auflösten. Sie hatte nur einmal eine Chance und musste schnell sein. 

Sie schrieb: Es muss der Schlusspunkt eines meiner künftigen Konzerte sein. Die Ränge um uns herum sind sehr nahe an der Bühne eingebettet. Wie in einer gedrungenen und überdachten Arena. Ich singe auf einer großen Bühne im Duett mit einem Mädchen, dass ein grau meliertes Gewand trägt und fast genauso aussieht wie ich selbst. Als wäre sie meine ältere Schwester. Vielleicht um die 18 Jahre alt. Wir singen wie im Rausch, als gäbe es nur noch uns beide und sonst niemand. Als würden unsere Stimmen förmlich verschmelzen. Als hätten wir uns schon immer gekannt und wären auf unzähligen Konzerten gemeinsam aufgetreten. So fühle ich jetzt, wenn ich die Eindrücke vor mir sehe – wir sind ein Herz und eine Seele.

Zu den Notizen der Nächte zuvor: Begegnung eines Teenagermädchens – liegend vor der Veranda – Embryonalstellung – scheinbar Tod – liege neben ihr – wie mein Zwilling – sie ist aufgewacht, notierte sie für diesen Traum: Duettpartnerin – Singen wie im Rausch – Stimmen verschmelzen – Seelenschwester.

Ja, das traf es genau: Seelenschwester. Es fühlte sich an, als seien sie ein Herz und eine Seele.

Und nun kam der schreckliche Teil: Es erheben sich hunderte, ja tausende Menschen von den Rängen und klatschen stürmisch Beifall. Ich suche ihre rechte Hand zu ergreifen, damit wir gemeinsam dem Publikum zuwinken. Doch greife ich ins Leere. Entsetzt blicke ich umher. Keine Spur von ihr. Ich rufe und schreie unter dem Jubel der Konzertbesucher nach ihr und ziehe den Vorhang im hinteren Teil der Bühne zur Seite. Dann sehe ich einen geschundenen nackten Körper: Meine Duettpartnerin. Sie liegt auf dem Boden und hält sich die Arme schützend vor die Brust. Unsere Blicke treffen sich. Ihre zarten Gesichtszüge sind durch Blessuren und blutende Schnitte entstellt und ihre Haare geschoren worden. Ihr restlicher Körper übersät von blauen und blutunterlaufenen Flecken.

Vermisst - Jane DoeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt