»NICHT AUFGEBEN!«

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Ogre – 20. Oktober 2001

Eingehüllt in einer wohlig warmen Wolldecke, saß Lavea allein auf den Treppenstufen der Veranda und ließ den Anblick des kleinen Indian Summer Lettlands auf sich wirken. Die milde Herbstsonne unter auffrischendem Wind, brachten gelb-orange-rote Blätter des angrenzenden Waldgebietes zum Leuchten und entlockte ihnen ein wahrhaft zauberhaftes Panorama.

Sie schwärmte von der intensiven Blattfärbung. Es erinnerte sie gleich an das Original - das Farbspektakel des Indian Summer der Neu-England-Staaten im Nordosten Amerikas. Zwei Jahre zuvor, Ende September 1999, reiste sie mit ihrem Dad und ihrer Mom für vier Wochen dort hin und nun tauchten im Geiste die atemberaubend, malerischen, orange-rötlichen Hügellandschaften wieder vor ihr auf, die sich meilenweit über Vermont, New Hampshire und Maine erstreckten und sie bei strahlend blauem Himmel überblicken konnte. Auch wenn die verheerenden Anschläge des 11. September auf das Word Trade Center, nur einige Stunden nach ihrem Konzert, die ganze Welt in einen Alarmzustand versetzte, wollte sie doch immer ein positives Bild von diesem wunderschönen Kontinent im Herzen bewahren. Mit einem kleinen Seufzer der Erleichterung dachte sie kurz daran, dass sie eigentlich im Jahre 2000 planten, Anfang September 2001 wieder nach Nordamerika zu fliegen. Doch durch das geplante Konzert, flogen sie nicht.

Nach dem gedanklichen Streifzug über die Neu-England-Staaten kam sie nun wieder bei Amber an. Sie griff nach ihrem kleinen Notizblock und war dabei, ein paar Gedanken einzufangen und Zeilen an sie zu schreiben, als plötzlich ihr Dad neben ihr stand.

»Na Liebes, darf ich mich kurz zu dir setzen?«

Er entdeckte sie wohl vom Küchenfenster, als sie nachdenklich ins Weite blickte. In letzter Zeit schwand langsam mein Enthusiasmus und machte langsam Raum für Zweifel. Das blieb wohl nicht unbemerkt. Insbesondere, wenn sie innerhalb der letzten zwei Wochen Amber nur zwei Mal besuchte und die fünf Monate davor mindestens fünf Mal die Woche. Man könnte es damit entschuldigen, dass sie zurzeit sehr viel zu lernen hatte. Klar sprangen ihre Eltern abwechselnd für sie ein, aber das ging nicht auf Dauer. Dad war immer für sie da und er wusste, wann es Zeit für ein Gespräch unter vier Augen mit ihr wäre. Das kannte sie von ihm. Und nun stand er neben ihr und wollte sich setzen. Sie wusste, was das zu bedeuten hatte.

»Na klar. Ich kann doch nicht Nein zu dir sagen.«

Er ließ sich neben ihr nieder. »Schau mich bitte Mal an«, sagte er ruhig und blickte ihr väterlich in die Augen. Er legte währenddessen ihre linke Hand zwischen seinen Handflächen. »Natürlich darfst du das. Auch Eltern haben die Pflicht, Momente des Alleinseins ihrer Kinder zu respektieren. Und du bist schließlich eine junge Dame geworden. Du kannst also erst recht sagen, wenn du nicht gestört werden möchtest.«

Sie legte den Stift beiseite, schlug das Notizbuch zu und legte es neben sich. »Ach Dad. Du sagst junge Dame. Aber so fühle ich mich im Moment überhaupt nicht.«

»Für uns bist du das aber und wir sind mehr als stolz auf dich. Auch wenn dich Umstände bedrücken und du es heute nicht geschafft hast, Amber zu besuchen, warum auch immer.«

»Nur wieder Mal heute?« Sie schmiegte sich an seine Schulter und er legte seinen Arm um sie. Gedankenversunken blickten sie gemeinsam zu dem Waldabschnitt vor ihnen und lauschten einfach dem sanften Säuseln der Blätter und dem Melodienspiel der Vögel.

»Die Farbenpracht erinnert mich an Neu-England, vor zwei Jahren«, sagte er, schon fast flüsternd.

Lavea schmunzelte. »Daran dachte ich vorhin auch. Es war eine wunderschöne Zeit dort. Eins der schönsten Geschenke, die ihr mir gemacht habt.«

Er nickte. »Ja, solche Momente möchten wir mit unserer Tochter niemals missen.«

»Amber hatte so etwas Schönes bestimmt noch nicht erleben dürfen ... Sie liegt schon über ...« Seufzend und kopfschüttelnd hielt sie inne und mochte es nicht laut aussprechen. Es fühlte sich wie eine Niederlage an, es auszusprechen. Wie ein Versagen. Zu sehr schmerzte die Vorstellung, dass sie nie wieder aufwachen könnte. Obwohl sie bis jetzt alles gegeben hatte, um sie aufzuwecken.

Vermisst - Jane DoeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt