»LICHT IN DER FINSTERNIS«

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... Eines Tages entführte uns dieses Monster, riss mir mein zartes Gegenbildbild in Menschengestalt aus der Hand und zog es sekundenschnell in die Tiefe. Hilflos musste ich mit ansehen, wie sie in die Schwärze des Abgrunds gezogen wurde. Langsam stiegen blutrote Schleier auf, die sich mit dem Wasser vermischten und schwebten an mir vorbei. Ich hatte sie, die ich über alles liebte, für immer verloren. Sie war eigentlich der Grund, weiterzuleben.

Während sich meine Tränen im Wasser auflösten, packte mich dieses Ungeheuer, zog mich die halbe Nacht hinter sich her und übergab mich einer fremden Unterwasserwelt, die ebenso düster und angsteinflößend war. Ich sehnte mich danach zu sterben, als dieses Verloren sein in der Finsternis, unter Monstern in der Tiefe. Für all jene Menschen, die mich liebten, und die ich liebte, würde ich nicht mehr existieren.

Während ich leblos in die Tiefe des Abgrunds sank, berührte mich plötzlich eine zarte Hand. Ich schreckte auf und glaubte, in Trance mein Gegenbild in Menschengestalt zu erblicken, das ich verloren hatte. Doch sie war es nicht. Diese verlorene Seele trat nun an IHRE Stelle und unsere Herzen verschmolzen.

In meinem letzten verzweifelten Versuch, mit ihr an die Unterseite der Eisfläche zu gelangen, um uns bemerkbar zu machen, damit wir gerettet würden, wurde auch sie vor meinen Augen von einem anderen Monster in die Tiefe gezerrt und verschlungen.

Ein Meer von Tränen vermischten sich mit dem Wasser des Ozeans. Einsam und allein zurückgelassen, streifte ich meine Identität ab. Die unerträgliche Last meines ICHs ruhte zu schwer auf mir und ich verlor Stunde für Stunde jede Hoffnung auf ein Überleben.

Bis zu jener Nacht ...

Aus den Tiefen des Meeres griff dieses Monster nach mir, um mich in den Abgrund zu reißen, damit auch ich sterbe. Doch ich wehrte mich mit all meiner Kraft. Er zerrte zwar an mir, aber konnte mich nicht in die Tiefe ziehen. Im Gegenteil: Wie ein Rochen bei Gefahr seinen Stachel pfeilschnell abschießt, so wehrte ich mich mit einem Stich, den ich ihm versetzte. Als würde eine unsichtbare Macht, die über mir stand, mir Luft zum Atmen einhauchen und unerschütterlichen Mut und unbändige Kraft einflößen.

Im Kampf gegen die Strömung sah ich Sonnenstrahlen, die das Eis durchbrachen, und mit Kampf und Schmerzen erreichte ich diesen hellen Ort der Hoffnung. Stille! Überall Stille! Niemand weit und breit. Selbst jedes Meeresungeheuer war verschwunden. Als würden sie wissen, dass ich nicht überleben werde.

Plötzlich spürte ich Hoffnung auf Rettung - polternde Schritte auf dem dicken Eis, ganz in der Nähe. Ich hämmerte mit den Fäusten an die Unterseite der Eisschicht und rief, um mich bemerkbar zu machen. Doch sie verschwanden wieder. Wieder wurde es gespenstisch still.

Ein paar kleine Fische tauchten wie aus dem nichts auf und umgarnten mich. Als wollten sie mir etwas mitteilen und meine einsame Seele trösten. Ein Seeotter huschte an mir vorbei und stieß mit dem Kopf gegen das Eis. Das wiederholte es ein paar Mal. Was geschah um mich herum, während ich an meinen Verletzungen im Sterben lag? Ich spürte wie sich unter den Sonnenstrahlen mein Leben langsam auflöste. So war ich dem Tod näher als dem Leben und ließ es in Erinnerungen an meine Freunde und Familie los.

Ich wusste, dass unter mir bereits fahle Gesichter des Todes lauerten, die ihre Hände nach mir ausstreckten, während ich leblos in die Tiefe sinke, und es nicht abwarten konnten, mich in Empfang zu nehmen, um mich dann zu zerreißen und zu verschlingen.

Und doch hatte es den Anschein, dass eine mysteriöse Kraft einen unsichtbaren Kokon um mich herum bildete, sodass ich atmen konnte und am Leben blieb.

Auf einmal tauchte ein Schatten auf. Eine Handfläche, die über mir auf dem Eis entlang wischte - die Silhouette eines Gesichts und die Stimme eines Mädchens - das sagte: »Halte durch! Halte durch! Hilfe kommt!«

Dann weitere Gesichter, die durch das dicke Eis blickten. Augenblicklich durchschlug etwas den riesigen eiskalten Sarg. Rettende Hände griffen nach meinen und zogen mich hinauf, an die Oberfläche, die Sonnenseite meines Lebens. Ich atmete in diesem Moment die Luft des Lebens. Doch wie lange noch?

Sanft umschlossen sie mit ihren Armen meinen nassen, nackten und zitternden Körper, trösteten mich durch mutmachende Worte und legten mich zärtlich auf die Haut ihrer warmen Herzen, wie eine liebevolle Mutter ihr Neugeborenes, dass soeben das Licht der Welt erblickt hatte.

Und doch spürten sie, dass ich in letzter Sekunde in ihren Armen starb.

Danach war ich lange Zeit wie Tod. Sie wichen nicht von meiner Seite. Ohne es zu wissen, bekam ich dieses Geschenk vom Himmel – eine neue Familie.

Als ich nach Monaten wieder zum Leben kam, streckten sie mir ihre helfende Hand zu. Ich ergriff sie und behutsam führten sie mich zu einem Ruheort. Dann geleiteten sie mich auf die neue Eisfläche und führten Schritte, Pirouetten und Sprünge kunstvoll neben mir aus, damit auch ich sie wieder erlerne.

Mit ihnen berührte ich heute, an diesem herrlichen Septembertag 2002, nicht nur die Fingerspitzen meines Spiegelbildes in Menschengestalt, die ich verlor, sondern zum allerersten Mal auch den Kranz der Sterne, unter dem Vereinigten Königreich.

Ich weiß, dass sich meine geliebte Seelenverwandte aus früheren Tagen (also DU) nach mir sehnt. Und ich weiß, du würdest die Hoffnung nie aufgeben, mich zu finden, damit wir uns wieder in die Arme schließen können. ...

(Flaschenpost/Schottland/Beach of the Highlander/01. Oktober 2004)

Vermisst - Jane DoeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt