»GEFANGEN - NENN MICH JANE DOE!«

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Unbekannter Ort – 1998

Ohne sich zu bewegen, erwachte sie langsam aus der Bewusstlosigkeit und öffnete die Augen einen Spalt. Sie lag auf einer weichen Unterlage, offenbar einer Matratze, nur ein paar Zentimeter vor einer grauen Wand. Wie kam sie hierher? Erleichtert atmete sie durch, weil sie nicht entkleidet wurde. Unter ihr lag sogar die Herbstjacke, die seit Jahren in ihrem Besitz war. Ihre Hände fühlten sich kalt an und die Luft roch muffig. Die Umgebung wirkte düster, nur ein kleiner Lichtschein strahlte von hinten an die Wand. Ein unangenehmes Kribbeln stieg durch ihre Eingeweide und kroch bis in die Kapillaren der Haut. War sie durch K. O. - Tropfen lange Zeit ohnmächtig gewesen? Oder hatte er sie bewusstlos geschlagen?

Es tauchten Stimmen und Erinnerungsbilder vor ihrem geistigen Auge auf. Ihr Herz schlug immer schneller. Eine unwirkliche und angsteinflößende Szene: Ein Mädchen wurde vor ihren Augen immer wieder geschlagen, ihre Schreie gingen durch Mark und Bein. Dann wurde sie durch einen Kopfschuss hingerichtet und in eine Grube geworfen. Danach musste sie dem Entführer helfen, dass Loch schnell mit Ästen, Erde und allerlei Unrat zuzuschütten. War es ein Traum, der sie weckte, ohne Bezug zu ihren Erlebnissen? Nein! Nein! ... noch mehr Adrenalin schoss durch ihre Adern. Das waren reale Erlebnisse. Ganz frisch. Nur Stunden her. Verborgen vor der ganzen Welt, in nächtlicher Dunkelheit. Der schreckliche Mord an ihrer Zwillingsschwester. Vor ihren Augen. Ihr Spiegelbild in Menschengestalt lebte nicht mehr. Sie war eigentlich der einzige Grund noch weiterzuleben, nachdem sie vor Jahren entführt wurden. Und nun existierte dieser Grund nicht mehr. Am liebsten wäre sie mit ihr gestorben. Warum hatte er sie nicht auch gleich mit erschossen? Warum musste sie nur wieder aufwachen, hier und jetzt?

Sie vermied es, hinter sich zu blicken und zog die Beine an, wie in eine Art Embryonalstellung. Keine Ahnung, wo sie hin verschleppt wurde. Nur, dass sie nun ohne ihre Schwester weiterleben müsste. Doch das wollte sie nicht mehr. Ein Zurück in ihr Leben war ... unmöglich. Keine einzige Person aus ihrer Vergangenheit, sei es Familie oder Freunde, sollte sie so sehen. Nach all den verstrichenen Jahren dachten sie bestimmt, dass sie tot sei. Und so sollte es nun sein. Es war das Spüren im Hier und Jetzt, für immer verloren zu sein. Loszulassen und innerlich zu sterben. Alle Zutaten, um ihre Entscheidung in Form zu gießen, vereinigten sich gerade. Die Entscheidung bei nächster Gelegenheit sich das Leben zu nehmen. Irgendwo musste es einen Gegenstand geben, der sie tödlich verletzen könnte. Sie konnte nicht mehr und wollte nicht mehr. Jetzt begann es...

Plötzlich spürte sie eine leichte Schwingung der Matratze, und ein unruhiges Atmen, nur Zentimeter hinter ihrem Rücken. Ein kalter Schauer rann durch ihren Körper. Sie war nicht allein. Dann ein Rascheln und eine Berührung mit der Hand auf ihrer Schulter. Ihr Herz schlug bis zum Hals. War es der Tod, der sie anfasste? Der Entführer? Ein Freier oder Zuhälter? Aber dann wäre sie sicher nackt, ohne ein Kleidungsstück am Körper. Und außerdem fühlte sich die Hand klein und zart an.

»Hello«, flüsterte eine mädchenhafte Stimme.

Langsam drehte sie ihren Oberkörper so weit herum, dass sie über ihre Schultern blicken konnte. Im nächsten Moment schreckte sie hoch. Ein jugendliches Mädchen mit Nachthemd richtete sich gerade auf und suchte ihren Blick. Im ersten Moment sah sie in ihr Gegenbild in Menschengestalt und dachte, ihre Zwillingsschwester sei doch noch am Leben und der Mord an ihr wirklich nur ein Traum gewesen.

»Nebaidieties. Hab keine Angst«, sagte sie.

Das Gesicht ihrer Zwillingsschwester verschwand in einem Nu. Dieses Mädchen war viel jünger aber auch so bildhübsch. Enttäuscht wanderte ihr Blick an ihr vorbei. Nur für einen Moment. Denn die Jugendliche berührte mit ihrem Zeigefinger ihre eigenen Lippen.

»Psss. Mums ir jābūt klusiem. Wir müssen still sein.«

»What is happening? Wo sind wir?«, fragte sie das Mädchen, flüsternd.

Vermisst - Jane DoeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt