»LAVEA - KÜNSTLERFAMILIE«

19 3 19
                                    

Ogre – 07. April 2001

Der gestrige Abend war für Lavea ein Meilenstein, auf dem Weg zu einer erfolgreichen Sängerin. Und im Erwachsenwerden. Es bedeutete viel Verantwortung, die Bühne der Gesangskarriere zu betreten und im Rampenlicht vor der Öffentlichkeit zu stehen. Sie war mehr denn je motiviert und fühlte sich dieser Aufgabe gewachsen.

Schwerelos sprang sie aus dem Bett, trat ans Fenster heran und zog die Jalousien hoch. Die Sonnenstrahlen erhellten das Jugendzimmer und versprachen einen herrlichen Frühlingstag. Sie kippte das Fenster, um das Gezwitscher der Vögel in ihrer ganzen Klarheit zu hören.

Dann eilte sie wieder zurück, unter die warme Bettdecke. Mit geschlossenen Augen unternahm sie eine gedankliche Zeitreise in die Vergangenheit und malerischen Zukunft, und glich es mit der Gegenwart ab. Es war, wie jeden Samstag, ein Ritual, um ihr Vorstellungsvermögen zu schärfen und unbekannte Welten im Kopf entstehen zu lassen. Eine Art immer größer werdende Schatzkammer der Fantasie - Inspiration für neue Songs.

Zum einen lebte sie in einem wunderschönen Land, in der Musik eine so große Rolle spielte. Lettland wurde auch als singendes Land beschrieben. Und zum anderen gehörte sie dem riesigen Chor von Sängerinnen und Sänger an, die während des traditionellen mehrtägigen Tanz- und Liederfests in Riga ihre Freude und Liebe zur Musik zum Ausdruck brachten.

Um dort singen zu dürfen, war Disziplin angesagt - viel üben, proben und bei Wettbewerben teilnehmen. Ihre Aufgabe war es, schwierige Kompositionen singen zu lernen und komplizierte Formationen zu tanzen. Der Zeitplan war eng. Natürlich war es anstrengend, doch ihre Begeisterung fand keine Grenzen, denn durch die regelmäßigen gemeinsamen Auftritte mit Ihresgleichen, verfestigte sie ihre einstudierten Darbietungen.

Die Folge: Es katapultierte sie seit geraumer Zeit auf ihrer musikalischen Laufbahn weit nach vorn. Hinzu kam, dass sie neben ihrer Mom und ihrem Dad, die bereits Profis waren, von anderen hochdotierten Künstlern lernen und neue Bekanntschaften mit singbegeisterten Mädchen schließen konnte.

Sie schnappte sich den Brief vom Nachttischkästchen, den sie zwölf Stunden zuvor im Vincents Restaurant von ihnen erhalten hatte. Ihr Herz schmolz dahin. Wieder Gänsehaut. Ein tiefes zufriedenes Lächeln huschte über ihre Lippen. Wenn sie an diesen Moment zurückdachte, fühlte sie sich geborgen und überaus mit Liebe überschüttet. Sie hätte spontan die ganze Welt umarmen können. Auch wenn sie ihr zunächst eine Eintrittskarte auf Laveas Namen aushändigten - in einem glänzend metallic gefärbten Briefumschlag, einer Art Silberziselierung - und sie nach dem Lesen der ersten Zeilen beinahe bittere Tränen hochstiegen, weil sie dachte, auch dieses Jahr würde es nichts mit einem Auftritt werden, erhielt sie doch im Anschluss einen Zweiten, einen Goldverzierten. Dort enthalten, ein persönlicher Brief an sie und hinzugefügt ein versiegeltes Dokument für die Mitwirkung eines geplanten Konzerts.

Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Dabei strich sie mehrmals mit ihren Fingerkuppen sanft über das Blatt Papier. Dieses Mal hielt sie sich nicht in unbekannte Welten auf, sondern blieb in der Realität. Und das war umso ergreifender, weil ihr Wunschtraum wahr wurde.

Liebe Tochter, Lavea, unser Juwel,

wir wissen, dass du seit Langem diesen Tag herbeigesehnt hast. Die Eintrittskarte mit deinem Namen sollte nur ein Probemuster sein, für jenes Konzert, bei dem du auf der Bühne stehen und dein Debüt als Sängerin unseres gemeinsamen Konzerts geben wirst.

Auch wenn du es vielleicht nicht bemerkt hast, es hatte uns viele Tränen gekostet, dass wir dich letztes Jahr nicht auftreten lassen konnten. Kannst du dir den Schmerz vorstellen, wenn sich dein geliebtes Kind etwas so sehnlich wünscht, du es ihm geben könntest, aber dich aus Liebe, Rücksicht und Schutz davor zurückhalten musst? Weil du weißt, dass die Zeit noch nicht gekommen ist.

Vermisst - Jane DoeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt