»LAVEA - EINE SCHICKSALSHAFTE BEGEGNUNG«

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Gauja-Nationalpark - 9:35 Uhr

Auf dem Weg zurück hielt Lavea intuitiv ihre Augen auf dem Boden gerichtet, um vielleicht noch weitere Spuren zu entdecken, die ihr entgangen waren.  

Plötzlich hörte sie eine Stimme. Als hätte jemand Ma gesagt. Und kurz danach wieder, Mâte. Eine Flut von Adrenalin schoss ihr durch die Adern. Sie nahm all ihren Mut zusammen, blieb stehen, lauschte und schaute umher.

»Lavea, bitte. Kommst du?«, rief David. 

»Ja, Dad. Aber...« Nichts, nicht einmal ihre Eltern, konnten sie aufhalten, der mysteriösen Stimme auf den Grund zu gehen. Was war da los?

Dann entdeckte sie etwas blau-schimmerndes in der Nähe eines halb umgefallenen Baums. Sie eilte dorthin. Es lag nahe, dass von dort die Stimme herkam. Der riesige Baum lehnte halb umgefallen an einem anderen Baum. Dann entdeckte sie wieder aufgewühlten Boden. Die Spur führte zu einer stattlichen Fichte. Daneben lag eine verschmutzte und blutbefleckte bläuliche Jacke. In eine der Taschen ragte eine Pistole heraus, mit einem Schalldämpfer. 

Plötzlich wieder die Stimme, die Mâte rief, schon viel deutlicher. Das war die richtige Spur. Sie ließ alles liegen und folgte ihr. 

Ihr Dad und ihre Mom befanden sich bereits hinter ihr in Sichtweite und wirkten nicht gerade entspannt, während sie nach ihr riefen. Hochkonzentriert starrte Lavea zu einer vor ihre auftauchende Vertiefung des Waldbodens. Als sie näherkam, tauchte mit jedem Schritt die Kontur einer menschlichen Gestalt auf, die rücklings auf der Grundlinie der Mulde lag. 

Nun bekam alles einen Sinn: Die Blutspuren. Die blutige Socke. Die Jacke. Das Nachtsichtgerät. Auch die Traumszenen, die sie am Morgen nicht losließen, waren plötzlich präsent und sogen sie in einen Albtraum hinein. In einen realen Albtraum, der sich buchstäblich vor ihren Füßen auftat. Und dieses Mal war es keine Einbildung. Niemals würde sie im echten Leben in Schockstarre verharren, so wie im Traum. Nun erst recht würde sie diesem Mädchen beistehen. 

Sie lief schnell zu ihr und beugte sich über sie. »Māsa! Meita!« Sie sollte zu ihr gehören – Schwester! Tochter! Trotzdem, die Szene war für sie verstörend surreal. Die Begegnung mit ihr überwältigte sie, denn ihr wurde glasklar, dass die Träume vielleicht kein Zufall waren. Es galt, dieses Mädchen, das vielleicht um die 20 war, zu retten. Hoffentlich war es nicht zu spät.

Ihre Augen waren geschlossen. So würde jemand aussehen, der eingeschlafen war. Mâte? Waren das eben ihre letzten Worte? Laveas Herz raste. Sie durfte doch jetzt nicht eben gerade eingeschlafen sein – Tod. Auf die Knie sinkend griff sie nach ihrer Hand. »Kannst du mich hören?« Ihr Kopf bewegte sich leicht. Das sollte sicher Ja bedeuten. 

Wie erleichtert war sie, aber zugleich auch voller Sorge, dass sie dem Tod näher war als dem Leben. »Ich weiß, du rufst nach deiner Mutter. Halte durch! Alles wird gut! Halte nur durch!«

Im Hintergrund vernahm sie die lautstarken Rufe ihres Dads und ihrer Mom, die immer näherkamen. »Lavea, was ist denn los?«, fragte ihre Mom. Dieses Mal klang es nicht mehr vorwurfsvoll, sondern besorgt. Plötzlich standen sie da und sahen zu ihr herunter. 

»Hier! Seht! Wir müssen ihr helfen.«

Sie wirkten wie erstarrt. Ihre Tochter, kniend vor einem sterbenden Mädchen, ihre Hand haltend. Dieses Bild musste verstörend auf sie gewirkt haben.

»Sie hatte nach ihrer Mutter gerufen. Hier in der Umgebung überall Blutspuren und Gegenstände verteilt. Jemand wollte sie bestimmt umbringen. Wir müssen den Notruf wählen. Mom, Dad. Bitte!«

»Ja, die Spuren haben wir auch gerade gesehen.« David sah sich zunächst um, ob irgendein Irrer noch immer herumstreunte, konnte jedoch kurz darauf Entwarnung geben.

Vermisst - Jane DoeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt