Kapitel 58

21 6 0
                                    

Wie Michael mir prophezeit hatte, war mein Würgeerlebnis am Freitag nur noch eine blasse Erinnerung. Körperlich zumindest. Gedanklich war ich noch sehr damit beschäftigt, vor allem angesichts dessen, was Tante Nina und ich heute vorhatten. In der lebhaften Vorstellung eines grandiosen Scheiterns verloren brachte ich irgendwie meinen Telekineseunterricht hinter mich. Immerhin würde ich Thomas und Nina an meiner Seite haben. Schlimmer als beim letzten Mal konnte es also sicherlich nicht werden.

„Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber deine heutigen Versuche waren enttäuschend", tadelte Margarete.

„Ich weiß."

„Du hättest dich einfach nur ein bisschen besser konzentrieren müssen."

„Ich weiß." Ich hatte meine Spiralfeder nicht mal zum Kippen gebracht. Meine Konzentration war momentan einfach anderen Dingen vorbehalten.

„Ich war Dienstag sehr angetan von deinen Fortschritten, aber heute..." Sie schüttelte ihren Kopf. „Wenn du dich nicht mehr anstrengst, wirst du ewig auf diesem geringen Level bleiben. Willst du das?"

Keine Ahnung. Für meine Geister brauchte ich Telekinese sowieso nicht, wofür sollte ich die Energie also investieren? „Die Schule hat mich heute sehr geschafft", log ich. „Mein Kopf gibt nichts mehr her. Nächste Woche wird es bestimmt wieder besser."

„Das wäre schön, schließlich wollen wir beide von deinen letzten Unterrichtsstunden profitieren, oder?" Sie wartete mein Nicken gar nicht erst ab. Mit einem „Bis Dienstag dann" verschwand sie aus dem Zimmer.

Seufzend erhob ich mich. Selbstverteidigungsunterricht stand als Nächstes auf meinem Plan. Ich hätte mich lieber direkt mit Geist 2 befasst. Ich wollte dieses Desaster endlich hinter mich bringen.

Angefüllt von einer unterschwelligen Nervosität, die mich bereits seit dem Morgengrauen plagte, folgte ich der Treppe ins Obergeschoß hinauf. Ich fand Mike in unserem Übungsraum beim Durchführen diverser Sit-Ups vor. Dieser Mann flößte mir mit jeder Begegnung mehr Respekt ein. Seine Bewegungen wirkten wie geölt. Nicht ein Schweißtropfen war zu sehen. Wie machte er das bloß?

„Hallo Mike", rief ich lautstark. Ich machte schon den ganzen Tag Gebrauch von meiner endlich wieder mit voller Kraft einsetzbaren Stimme. Wenigstens eine Sache, über die ich mich heute freuen konnte.

„April." Er schwang sich in die Höhe. „Wie geht's dir? Ich habe von diesem Angriff letzte Woche gehört. Einfach furchtbar." Er rieb sich das Nasenbein. „Wir müssen deinen Trainingsplan neu aufbauen. Ich habe bereits mit Mattheus über die Geschehnisse gesprochen. Wir brauchen einen anderen Ansatz für dich. Meine bisherigen Ratschläge waren nicht das Richtige."

„Geister reagieren anders als Menschen", stimmte ich diplomatisch zu.

„Ich habe mir die ganze Woche Gedanken darüber gemacht, welche Übungen und Bewegungsabläufe besser für dich geeignet wären. Leider ist mir nicht allzu viel eingefallen. Ich habe zu wenig Erfahrung mit Geistern, um abschätzen zu können, welche Selbstverteidigungsarten sinnvoll wären und welche nicht."

Ich musste lächeln. Wenn ich dazu nicht die perfekte Lösung hatte... „Wusstest du, dass ich einen Geist habe, der mich stets begleitet? Er ist der erste Geist, den ich beschworen habe, weswegen wir auf besondere Weise miteinander verbunden sind. Er heißt Thomas. Im Kampf gegen Geist 2 hat er mich gerettet." Weil Mike verwirrt aussah, schob ich rasch hinterher: „Geist 2 ist der Geist, den ich auf Anweisung der Liga beschwören musste. Derjenige, der mich angegriffen hat. Eigentlich heißt er Bernd."

„Aha."

„Wie auch immer. Thomas hat den Wunsch geäußert, an unserem Selbstverteidigungsunterricht teilzunehmen. Er möchte gerne lernen, wie er sich Geister erwehren kann, die mir Übles wollen."

„Klingt nach einem netten Geist."

„Er ist großartig. Der Punkt ist: zu dritt wären wir in der Lage, herauszufinden, wie man am besten gegen Geister vorgeht. Wir könnten an Thomas üben, was ihm schadet. Thomas könnte von dir lernen, wie man sich verteidigt."

„Oh... Ich verstehe." Ein Lächeln breitete sich auf Mikes Gesicht aus. „Eine hervorragende Idee. Ich könnte Erfahrungen mit Geistern sammeln, um daraus abzuleiten, welches Training am zielführendsten wäre." Er schlug mir auf die Schulter. „Wo ist dieser Geist? Ist er hier? Sollen wir sofort in der Dreierkonstellation beginnen?"

„Nein, momentan ist er bei mir zuhause." Meine Bitte, mich zum Selbstverteidigungsunterricht zu begleiten, hatte er mit den Worten abgelehnt, er müsse sich mental in Ruhe auf die erneute Begegnung mit Geist 2 einstellen. Ich vermutete eher, ihn plagte Nervosität. Genau wie mich. Aber er hatte versprochen, rechtzeitig zur Beschwörung von Geist 2 in der Liga zu sein und ich vertraute seinem Wort. Er würde hier sein. „Ich könnte ihn beim nächsten Mal mitbringen."

„Umso besser, dann kann ich mich entsprechend vorbereiten. Befassen wir uns heute also mit meinem ursprünglich geplanten Programm." Mit einem Wink orderte er ein Anschauungsplakat herbei. Flatternd löste sich das Papierstück von der Wand und schoss auf uns zu.

Ich fing es auf, kurz bevor es mir gegen das Gesicht klatschen konnte. Statt menschlicher Knochen waren dieses Mal hunderte Linien abgebildet, die den Körper durchzogen. An diversen Stellen befanden sich rote Punkte.

„Dies sind die neuralgischen Vitalpunkte eines Menschen, April. In der chinesischen Kampfkunst setzt man darauf, dass exakte Schläge gegen solche Vitalpunkte zu Kribbeln in den Körperteilen, Lähmungserscheinungen, teilweise sogar zu Ohnmachten führen können. Ich habe keine Ahnungen, ob deine Geister darauf reagieren, aber es schadet sicher nicht, dir einige Handgriffe beizubringen." Er setzte sich auf die bereit liegende Iso-Matte.

Mit dem Plakat in der Hand setzte ich mich ihm gegenüber. Da Geister keine Schmerzen verspürten, würden sie wahrscheinlich auch keine Lähmungsgefühle empfinden, aber vielleicht könnte ich sie tatsächlich mit einem gezielten Handkantenschlag in Ohnmacht versetzen. Wer wusste das schon? Ausprobiert hatte ich es jedenfalls noch nicht. „Woher weißt du so viel über chinesische Kampfkunst?"

„Ich bin seit meiner Kindheit Mitglied in einem asiatischen Kampfkunstverein und dort seit einigen Jahren auch als Trainer zertifiziert. Außerdem interessiert mich das Thema. Hat es schon immer." Er tippte auf eine der roten Stellen meines Plakats. „Wir beginnen mit diesem Vitalpunkt. Der ist gut zu erreichen und mit verhältnismäßig wenig Kraft aktivierbar."

Den Rest der Stunde mühte ich mich damit ab, den auserwählten Vitalpunkt zwischen Mikes Muskelbergen korrekt zu treffen. Gar nicht so einfach.

Am Ende unseres Unterrichts nickte er trotzdem. „Gut. Ich glaube, du hast verstanden, worum es geht."

„Einfach immer feste drauf", resümierte ich.

„Was deine Geister betrifft schon." Er schmunzelte. „Ich freue mich darauf, deinen Thomas nächste Woche kennenzulernen. Vielleicht ist das Training mit ihm erfolgversprechender als diese Methode."

„Wir werden sehen." Ich klopfte meine Hände ab. Kaum war ich nicht mehr mit dem Unterricht beschäftigt, kehrte meine Nervosität mit Macht zurück. Meine Handflächen wurden feucht. „Bis nächste Woche dann." Ich schlich zum Umkleideraum hinüber.

„Bis nächste Woche!"


Spuk im KellerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt