Kapitel 61

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Ich hatte es geschafft. Ich hatte es tatsächlich geschafft, Bernd in die Nachwelt zu geleiten. Sein spektakulärer Abgang war eindeutig. Er hatte nicht nur den Raum gewechselt, er war tatsächlich ganz und gar verschwunden.

Als wenn man mir jegliche Kraft geraubt hätte, sank ich zu Boden.

Zischend zerteilte eine Schreibtischlampe die Luft vor meiner Nase. „Lass sie in Ruhe!"

„Er ist weg, Jonathan", hielt ich ihn auf. „Nimm die Lampe runter."

„Weg? In welcher Hinsicht meinst du das?"

„Er ist übergetreten", murmelte ich fassungslos. „In die Nachwelt. Offenbar hat es gereicht, ihn darauf hinzuweisen, dass ihm dieser Weg trotz allem zusteht."

Meine Tante flatterte auf mich zu und umarmte mich. Die Anteilnahme verschwand von Jonathans Gesicht. Mit seiner üblichen grimmigen Fassade stellte er die Schreibtischlampe zurück. Er steckte sogar das Kabel wieder in die Steckdose.

Aufmunternd tätschelte ich Ninas Schulter, während ich zu Thomas hinüber sah. Er lag nach wie vor an der Backsteinwand, wobei sein Kopf zu meiner Erleichterung vollständig wiederhergestellt war. „Alles in Ordnung?"

Er legte einen Arm über die Augen. „Ich schäme mich. Schon ein einziger Schwinger hat gereicht, um mich außer Gefecht zu setzen. Ich bin der schlechteste erste Geist aller Zeiten."

Und einfach so brach ich in hysterisches Lachen aus. „Das scheint mir langsam zu unserem Mantra zu werden! Immer wenn wir gemeinsam etwas erreicht haben, kommst du damit rüber, wie schlecht du bist." Ich brach in eine neue Lachsalve aus.

„Das ist nicht witzig", murrte Thomas.

„Oh je", machte meine Tante. „Da bricht wohl die Erleichterung durch." Sie tätschelte mir den Kopf. „Du hast das sehr gut gemacht."

Jonathan räumte weiter mein zerlegtes Zimmer auf. Nach Atem ringend rappelte ich mich auf. „Lass ruhig. Ich mach das schon." Ich nahm ihm meine Lichterkette aus der Hand.

„Du hast einen ganz anderen Ansatz als mein Vater", murmelte er, wobei er meinem Blick auswich.

„Ist das etwas Schlechtes?"

„Nein." Er schob den Schreibtischstuhl an den Tisch zurück. „Das ist gut."

„Aha." Ich rollte die Lichterkette auf, da ich sie ohne Trittleiter sowieso nicht anbringen konnte. „Wie kommt es, dass du Bernd gespürt hast?"

„Mein Vater hat mich darauf trainiert, nachdem feststand, dass ich magisch begabt war. Immer, wenn ein Geist in der Nähe war, hat er mir befohlen, ihn zu orten. Er dachte wahrscheinlich, ich würde in seine Fußstapfen treten. Geisterbeschwörer werden. Sein Vermächtnis fortführen."

„Welches Vermächtnis?"

Er schnaubte. „Richtige Frage. Außer Schutt, Asche und Hass hat er nichts in dieser Welt hinterlassen."

„Doch." Ich brachte ein zögerliches Lächeln zustande. „Dich."

„Toll." Er hob die Nagelfeile vom Boden auf und knallte sie auf meinen Schreibtisch. „Was für eine großartige Leistung." Seine Bitterkeit stach mir ins Herz. Trotz allem, was er mir angetan hatte, hätte ich ihn lieber fröhlich gesehen - soweit das bei ihm eben möglich war. „Ich muss die Karteikarten zu Ende sortieren." Ohne ein weiteres Wort verließ er mein Zimmer.

„Danke für deine Hilfe", rief ich ihm rasch hinterher. Krachend fiel die Tür ins Schloss. Auch gut. Ich legte die aufgerollte Lichterkette zur Seite. Nina war damit beschäftigt, ihren Hausstand zurück in ihre monströse Tasche zu räumen.

„Das lief nicht optimal, aber wir sind ans Ziel gelangt." Ernsthaft überrascht von dieser Erkenntnis ließ ich mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen, woraufhin ein Schmerzensblitz durch meinen Kiefer zuckte. Autsch. Seufzend betastete ich die Stelle, an der Bernds Faust mich getroffen hatte. Bald musste man mich wie eine Mumie am ganzen Körper verhüllen, um die Zeichen meiner Prügeleien zu verbergen.

„Stimmt." Nina lächelte. „Tut mir leid, dass ich dein Zimmer auf den Kopf gestellt habe. Das war eigentlich anders gedacht."

„Dachte ich mir."

„Meine Wurfgeschosse waren auch nicht unbedingt zielführend."

„Es war einen Versuch wert. Woher hätten wir sonst wissen sollen, dass wir sie beim nächsten Mal nicht unbedingt wieder einzusetzen brauchen?"

„Beim nächsten Mal solltest du besser von vornherein Jonathan um seine Hilfe bitten." Sie schob sich den Riemen ihrer Handtasche über die Schulter. „Ich hatte den Eindruck, er konnte mehr gegen Geist 2 ausrichten als ich."

„Dafür, dass er keine Geister sehen kann, hat er erstaunliche Treffsicherheit bewiesen. Trotzdem hätte ich in Kämpfen lieber dich an meiner Seite." Ich sah zu Thomas hinüber, der immer noch am Boden lag. „Wobei ich am liebsten überhaupt nicht mehr kämpfen würde. Was meinst du, wäre es utopisch, anzunehmen, alle meine zukünftigen Geister könnten ganz friedliche Personen sein?"

„Es wäre dir zumindest zu wünschen." Nina kam zu mir herüber. „Was macht dein Kiefer? Hast du starke Schmerzen?"

„Die Kehlkopfquetschung war schlimmer." Ich tastete erneut nach der pochenden Stelle an meinem Kinn. „Aber ich glaube, das gibt einen üblen blauen Fleck. Wie soll ich den Mama erklären?"

Nina seufzte schwer. „Diese leidige Frage stellen wir uns in letzter Zeit viel zu oft." Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Kannst du nicht sagen, dass dich im Sportunterricht ein Ball getroffen hat?"

„Wir haben mittwochs Sportunterricht."

„Erneuter Fahrradunfall?"

„Dann nimmt sie mir das Fahrrad weg."

„Prügelei auf dem Schulhof?"

Ich ersparte mir eine Antwort.

„Hast recht. Dann würde sie dir die Ohren lang ziehen, bis du sie einmal um die Erde wickeln könntest."

Ich nickte. „Außerdem würde sie an ihren erzieherischen Qualitäten zweifeln, noch mehr Ratgeber über missratene Kinder lesen und neue zweifelhafte Methoden zum harmonischen Miteinander an uns ausprobieren wollen."

Thomas regte sich. „Sag doch einfach, dass dich auf dem Schulhof ein Ball getroffen hat. Wenn die jungen Burschen in den Pausen immer noch so manisch Fußball spielen wie zu meinen Zeiten, sollte sie dir das sofort abnehmen."

Ich überdachte das. „Die Idee ist gar nicht schlecht."

„Welche Idee?", erkundigte sich Nina verwirrt.

„Fünftklässler haben mich in der Pause mit einem Fußball abgeschossen." Ich stand auf. „Thomas' Einfall."

Nina sah sich im Raum um. „Dein Geist ist ganz schön aufgeweckt."

„Hast du das gehört, Thomas?", fragte ich zufrieden. „Du bist ganz schön aufgeweckt."

Das brachte ihn immerhin dazu, endlich aufzustehen. Erschöpft ging ich zu ihm hinüber und hakte mich bei ihm unter. Mein Arm kühlte sofort auf die Temperatur eines Gefrierschranks ab. „Lasst uns nach Hause gehen. Aufräumen kann ich ein anderes Mal."


Spuk im KellerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt