Kapitel 55

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Ich hatte vergessen, wie merkwürdig ich in Rollkragenpullovern aussah.

Stirnrunzelnd stand ich zum x-ten Mal an diesem Samstag vor dem Spiegel meines Kleiderschranks und betrachtete mich. Mein Kopf schien auf das Doppelte seiner üblichen Größe angeschwollen zu sein. Mein Kinn zeigte Ansätze eines Doppelkinns. Ziemlich warm war mir außerdem. Niemand sollte im Oktober gezwungen sein, Rollkragenpullover zu tragen.

Bianca hatte mich auch etwas seltsam angeschaut, als ich in diesem Teil zum Frühstück erschienen war. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass mein Schrank eine solche Scheußlichkeit aufwies, bis ich heute morgen auf der Suche nach einem dicken Schal darauf gestoßen war. Er musste noch aus Zeiten stammen, in denen meine Mutter mich eingekleidet hatte. Wie lange lag das zurück? Sieben Jahre? Zehn Jahre? Es war eines dieser leidigen mitwachsenden Teile.

Unglücklich zupfte ich den hohen Kragen des Pullovers zurecht. Immerhin musste man diesem Kleidungsstück zugute halten, dass es meine Würgemale hervorragend verbarg. Viel besser als ein Schal, der ständig verrutschte. Und es waren Würgemale, die verdeckt werden mussten. Auf meiner linken Halshälfte schillerten vier bräunlich-rote Flecken, auf meiner rechten Halshälfte einer.

Ein Mal für jeden Finger.

Ich wandte mich vom Spiegel ab. Wenn meine Mutter die sehen würde, würde sie außer sich geraten. Die Flecke waren klein, aber deutlich. Da nahm ich lieber einen grässlichen Rollkragenpullover in Kauf.

In tiefer Stille strich ich meine Bettdecke glatt. Wegen meiner angeblichen Erkältung hatten Tabitha und ich unseren Plan mit dem Zumba verworfen. Stattdessen würde sie mich direkt besuchen kommen.

„Große?" Meine Mama klopfte. „Kann ich reinkommen?"

Da ich mich nicht anders äußern konnte, lief ich zur Tür und öffnete sie.

„Hey. Ich wollte mich nur vergewissern, ob es wirklich in Ordnung für dich ist, wenn ich heute Abend mit Natascha ausgehe. Sei bitte ehrlich. Solltest du mich brauchen, sage ich ab."

Entschieden schüttelte ich meinen Kopf, worauf meine gequetschte Kehle mit einem unangenehmen Stechen reagierte. Autsch.

„Diese Bewegung machst du immer, wenn ich dich frage, aber bist du dir wirklich sicher?!"

Ich zerrte meinen Spiralblock vom Bett. Man könnte langsam den Eindruck gewinnen, sie wollte gar nicht ins Theater. ‚Geh!', kritzelte ich unter die vier anderen Geh!'s, die bereits darauf standen. ‚Ich bin 17. Kann auf mich selbst aufpassen!'

„Du hast recht. Ich sollte nicht ständig vergessen, dass du schon beinahe erwachsen bist." Einen Moment zögert sie noch, dann straffte sie sich. „Schön. Ich werde mich fertig machen. Ein Theaterbesuch erfordert ein entsprechendes Aussehen."

Zustimmend nickend scheuchte ich sie aus der Tür. Nachdem sie verschwunden war, machte ich mich weiter daran, mein Zimmer aufzuräumen. Die letzten Wochen über war einiges liegengeblieben und da es bei Tabitha immer wie geleckt aussah, wollte ich nicht, dass mein Zimmer das pure Chaos war. Zwei Menschen konnten ziemlich verschieden sein.

Ich räumte Schulbücher beiseite und wischte Staub. Ich ordnete und lüftete. Ich sammelte meine benutzte Wäsche auf und brachte sie ins Erdgeschoss zur Waschmaschine. Außerdem trank ich auf Michaels Rat hin alles, was sich in meiner Umgebung befand, weswegen ich ungefähr alle halbe Stunde auf Toilette musste.

„Siehst du noch irgendwo Staub?" Ich drehte mich zu Thomas um, der seit einer Weile in meinem Fernsehsessel saß.

„Ich sehe schon seit zwei Stunden keinen Staub mehr, aber das hält dich nicht davon ab, ihn weiter zu bekämpfen." Mit einer Geste bedeutete er mir, meine Gedanken aufzuschreiben, anstatt zu sprechen.

Spuk im KellerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt