Alleinsein

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42. Kapitel

Kjell

Der Tag war eine Ewigkeit lang.

Die Stille um mich herum wird nur durch das unentwegte Piepen in meiner Ohrmuschel gebrochen. Ein Tinnitus. Und je leiser es um mich herum wird, desto lauter klingt er.

Milan und ich sind nach vier Stunden auf dem Polizeirevier zu ihm nach Hause gefahren. Mit dem Bus. Er hat seitdem kein Wort gesagt. Sich nicht einmal darüber ausgelassen, dass wir mit dem Bus fahren, anstatt ein Taxi zu nehmen. Er starrt und starrt in die Leere, die sich vor ihm befindet. Seine Augen sind gerötet, die Haut über seinen Fingerknöcheln spannt und ist noch voll mit trockenem Blut. Er sieht mich nicht, obwohl ich ihm beistehe. Obwohl auch meine Augen brennen, während ich mich mit einem schlechten Gewissen quäle, weil ich gar keinen Grund habe zu heulen. Es ist Milans bester Freund, den wir heute verloren haben. Und so gern ich Becks auch hatte, Fakt ist: Ich kannte ihn kaum.

Die Emotionen, die sich in Milan stauen, sind nahezu greifbar. Er betritt seine offene Küche und geht zum Kühlschrank, um sich ein Bier herauszuholen. Er schraubt den Deckel ab. Und trinkt. Er wandert. Ein paar Schritte in Richtung Esstisch, dann zur Kochinsel zurück. Ins Wohnzimmer. Zum Fernseher und dann zur Couch. Seine Augen hängen sich an nichts in diesem Raum auf, während ich wie ein Störenfried im Türrahmen zum Flur stehe und handlungsunfähig bin. Ich finde keine Worte. Keine Ideen. Keine Reize, die in meine Arme oder Beine gelangen könnten und mein Kopf ist so irre leer wie lang nicht.

„Milan", sagt irgendwer. Ich. Meine Stimme klingt mir selbst so fremd und auf Milan hat sie keine Wirkung. Es ist, als hätte ich nichts gesagt, sondern seinen Namen nur in meinem Kopf gedacht. Dabei habe ich doch genau gespürt, wie sich meine Lippen bewegten.

Es ist erdrückend. Alles an dieser Situation und es wird von Minute zu Minute schlimmer.

„Milan", sage ich noch einmal und dieses Mal, bin ich es wirklich. Und es ist meine Stimme, die meine Füße dazu bringt, ein paar Schritte in den Raum hineinzugehen.

„Was?", gibt er grob zurück. Seine Stimme ist angeschlagen, rau. Noch viel bissiger als sonst und ich muss schwer schlucken, weil diese Wirkung an mich gerichtet ist. Milan hat sich kurz auf den Sessel gesetzt, dann steht er wieder auf, um mit seinem Bier in der Hand ein paar Schritte zu gehen. Nach ein paar weiteren, großen Schlucken ist seine Flasche leer. Und er lässt sie zurück auf seinem Wohnzimmertisch, ehe er zum Kühlschrank geht und die nächste Flasche greift.

„Was kann ich tun?"

Er sagt nichts, sondern trinkt sein Bier. Er lehnt sich gegen die Küchentheke und sein Blick kreuzt meinen. Ich habe noch nie einen derart leeren Blick in den Augen eines anderen Menschen gesehen, wie ich es gerade bei Milan tue. Da ist keine einzige Regung in seinem Gesicht, die mich zu der Annahme bringen könnte, es ginge ihm den Umständen entsprechend gut. Es geht ihm beschissen. Und ich befürchte, dass beschissen die netteste Umschreibung für seinen Zustand ist, die man hätte machen können.

Milan leert noch drei weitere Flaschen, bevor er in der Küche das Licht löscht und auf mich zukommt. Er greift nach meiner Hand und bringt mich in sein Schlafzimmer. Und dann liegen wir nur da. Eine weitere Ewigkeit lang, in der ich nur neben ihm liege, seine Hand halte und versuche mich auf seine regelmäßigen Atemzüge zu konzentrieren.

Ich hoffe, dass er eingeschlafen ist, während mein Blick hellwach an die Schlafzimmerdecke gerichtet ist. Mein Magen ist leer und mein Herz ist es auch, dabei verstehe ich nicht, was sich verändert hat. Gerade waren wir noch so voller Gefühle, voller Freunde und Liebe und jetzt liegen wir hier, berühren uns und nichts davon reicht aus, um einem von uns zu helfen. Es ist, als würden wir in der Stille der Nacht voneinander weg driften. Als gäbe da nichts, was uns aneinanderhält.

To be RecklessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt