Gefühle

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21. Kapitel

Kjell

Kann man sich innerhalb weniger Wochen in jemanden verlieben? Noch schlimmer. Kann man jemanden lieben, den man kaum kennt? Können Gefühle so heftig sein, dass man den Schmerz einer anderen Person selbst körperlich spürt?

Denn ich tue es.

Alles an meinem Körper tut weh, während ich wie gelähmt einfach nur Milan anstarre, der mit seinem ganzen Körper am Boden liegt. Sein gesamter Körper ist vor mindestens zehn Sekunden – oder Minuten – auf den Boden geprallt, als wäre darin alles Leben ausgelöscht worden. Sein Gesicht blutet. Überall Blut und Milan bewegt sich nicht. Vielleicht atmet er noch, aber aus dieser Entfernung kann ich es nicht sehen. Ich kann es nicht sehen, weil diese Typen um den Käfig herumschreien und jubeln und sich gegenseitig schubsen.

Jemand redet. Neben mir, vielleicht mit mir. Aber ich höre nichts, weil mein Kopf unter Wasser ist. Ich mühe mich damit ab den Kloß herunterzuschlucken, der sich in meiner Kehle gebildet hat und balle meine Hände zu Fäusten. Dabei rutscht mir meine Kamera aus den Fingern und das Geräusch, wie Plastik und Glas auf Asphalt treffen, ist so ohrenbetäubend laut zwischen dem Geschreie der Menschen in dieser Halle.

Ich sterbe.

In jeder Sekunde, die sich Milan nicht rührt, ein bisschen mehr und beginne mich zu fragen, wann ich mich je so mies gefühlt habe. Mir fällt ein, dass das bloß ein paar Monate und etliche Therapiestunden her ist. Und jetzt muss ich zusehen, wie Ilja auf Milan zugeht und ihm mit dem Fuß in die Seite tritt. Erst sachte. Und, als Milan sich nicht rührt, tritt er fester zu. Er hockt sich neben Milans regungslosen Körper, greift nach seinem blutenden Kiefer und redet auf ihn ein. Niemand unternimmt etwas.

Mir fehlte immerzu die Vorstellungskraft dafür eine Situation zu beschreiben, die mich und meinen Körper dazu bringt Gewalt anwenden zu wollen. Ganz bewusst und mit jeder möglichen Aggressivität, die ich aufbringen kann. Aber das hier ist der Moment. Der, in dem ich wie in Trance über meine am Boden liegende Kamera steige und mich durch die tosende Menge stoße in Richtung des Käfigs bewege. Nur Milan im Fokus und mit einer Wut im Magen, die mir allerdings auch nicht gegen seinen Gegner helfen wird. Das ist mir so bewusst wie die Tatsache, dass hier irgendjemand etwas unternehmen muss. Und, wenn das kein anderer tut, dann eben ich.

Doch bevor ich die Tür zum Käfig erreichen kann, hält man mich zurück. Es ist Yasin, der seine Pranken um meine Oberarme legt und auf mich einredet. Aber das ist auch der Auslöser, der mich meine Stimme wiederfinden lässt.

„Lass mich los!"

Meine Sicht verschwimmt, weil ich anfange zu heulen. Kurz nachdem Ilja noch einen Schlag auf Milan ausgeteilt hat und mich damit niederschmettert. „VERFICKTE SCHEISSE LASS MICH LOS! ICH BRING DEN UM!"

„Beruhig dich!", brüllt auch Yasin mir entgegen und seine Worte könnten nicht wirkungsloser sein. Selbst die Tatsache, dass Ilja sich von Milan wegbewegt und Sanitäter den Käfig betreten, erzeugen keine Entspannung in meinem Körper. Kein bisschen.

„Saj", höre ich Thorvi sagen. Ich schlucke schwer und winde mich aus Yasins Griff, um mir die Tränen von den Wangen zu wischen. Aber er lässt mich nicht ganz los, tritt nur ein wenig zur Seite, damit Vi auf mich einreden kann in der Hoffnung, ich würde mich dank ihrer Worte beruhigen. Aber in mir beruhigt sich nichts, verdammt. Mein Blick hängt nur an Milan, der die Augen immer noch nicht geöffnet hat und wegen dieser verfickten Tränen kann ich nicht sehen, ob sich sein Oberkörper bewegt. Ich sehe nur Blut und spüre puren Hass auf alles und jeden.

„Kjell", sagt Thorvi nun. Sie versucht meine Aufmerksamkeit vom Geschehen auf sich zu lenken. Das geschieht nicht. Also schiebt sie mich mit Yasins Hilfe durch die Menge und weiter weg vom Käfig. Ich lasse es geschehen, weil ich mich nicht wehren kann. Doch, als ich Milan aus den Augen verliere, werde ich panisch.

To be RecklessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt