Kapitel 15 ~ Aus großer Höhe

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Die kleinen Steine des Schotterwegs knirschten unter Bellatrix' Sohlen, als sie die lange Auffahrt zum Anwesen hinaufging. Ihre Schritte waren schwer. Ihr Atem stach in ihrer Brust und ihre Augen brannten. Sie war übersät mit Kratzern und Blasen, und besudelt mit Erde und Grasflecken: Den Rückweg durch das Unterholz mit seinen spitzen Ästen, den Gifteichen und Nesseln, hatte sie blindlings hinter sich gebracht, halb stolpernd und tobend vor Schmerz und Wut, dann wieder erschöpft und tieftraurig. Ihr Haar war zerzaust und ihr Gesicht feucht und rotfleckig, die Augen glasig und leer. In ihrem Kopf plagten sie die Erinnerungen an längst vergangene Zeiten und ließen ihr keine Ruhe, sich zu sammeln.
Was nur, um alles in der Welt, hatte sie sich dabei gedacht, dem Schreiben ihrer Schwester zu folgen? Was hatte sie auch nur eine Sekunde lang glauben lassen, sie bestellte sie aus Einsicht, Reue und Sehnsucht zu sich? Bellatrix war dumm gewesen, das erkannte sie jetzt. Sie hatte Vertrauen geschenkt, wo sie Frage hatte stellen und Entschuldigungen hätte verlangen müssen.
Nie wieder. Nie wieder!
Nie wieder würde sie so einfältig sein. Nie wieder würde ohne weiteres verzeihen.
Nie wieder... würde es jemanden geben, der sie mehr verstehen und ergänzen würde als Andromeda es getan hatte...
Ein Stich flammte in ihrem Herzen auf und schlug Wellen bis in ihre Magenkuhle, wo er wie ein Schlag nachhallte. Die Hexe schluckte einen großen Kloß in ihrer Kehle herunter und spürte dann abermals, wie Tränen ihre Sicht verschleierten und heiß in ihren Augen brannten.

Sie ist einfach weg... Sie hat mich einfach alleingelassen.

Von den Wiesen her waberte noch etwas vom morgendlichen Nebeldunst auf den Zufahrtsweg hinüber und hüllte das noch einige hundert Meter entfernte Gutshaus in dichte, mystisch anmutende Schwaden.
Beim Anblick des Hauses überkam Bellatrix eine anhaltende Übelkeit, die sie nicht erklären konnte. Am liebsten wäre sie umgedreht und die Allee hinuntergelaufen..., hinunter ins Dorf, in die nächste Stadt. Und dann? Wohin? Wer wollte sie schon bei sich haben? Wem war sie keine Last, wer wollte sie um ihrer selbst Willen? Wer sah Etwas in ihr und nahm sie nicht als selbstverständlich? Niemand...
Die Erkenntnis schmerzte nicht so sehr, wie sie es vielleicht am Vortag getan hätte, weil sie es irgendwie schon lange gewusst hatte. Es war eher ein dumpfes, taubes Gefühl, als wäre sie nicht ganz bei sich.

Noch einige Meter trennten sie vom Gelände. Sie kam vom Weg ab, der sich hinter der Grundstücksgrenze zu einem Rondell bis vor das Haupttor bog, und ging stattdessen wieder um die niedrige, alte Mauer herum, die den Garten einzäunte, bis sie zu den alten Eichen kam, und sich mit einem großen Schritt über den steinernen Wall hinwegsetzte.
Scheinbar schliefen noch alle. Der Himmel war hellrosa und der Garten bis auf bereits schwirrende Insekten friedlich.
Die Fenster waren noch geschlossen. Offenbar waren die Vorsichtsmaßnahmen, die Bellatrix mit Doaty's Hilfe getroffen hatte, irrelevant gewesen. Es war viel zu früh. Die Hexe würde sich einfach zurückschleichen und noch einige Stunden ins Bett legen können, eh sie dann aufstehen und ihren Eltern ihre Genesung mitteilen würde. Gut für Doaty, die nicht ein weiteres Mal ihre Herren belügen und sich anschließend bestrafen müsste. So war es besser.

Bellatrix stieg auf die erste Sprosse der Leiter und warf einen Blick hinauf zum Fenster, das so angelehnt war, wie sie es vor einigen Stunden zuvor zurückgelassen hatte. Dann begann sie, emporzusteigen. Die Krähen zogen Kreise um die Nester, die sie in den Eichenbäumen gebaut hatten, krächzten laut und würden bald mit ihrem Gezänk die Herrschaften Black wecken. Stufe um Stufe ging es wackelig nach oben, bis sie die den Sims erreichte und ihre Finger das Fensterglas aufstießen. Die letzte Ebene ihres Aufstiegs reichte gerade bis zum untersten Keil der Fensterbankkante. Die Hände links und rechts am Fensterrahmen wollte sie sich gerade hochstemmen, als sich ein Paar Fäuste mit festem Griff um ihre Unterarme schlossen. Bellatrix' Blut gefror in ihren Adern.

„Sieh an...Wen haben wir denn da?", ihre Augen blickten in die ihres Vaters, der von so abnormem Zorn erfüllt, an Bellatrix' Fenster stand und diese in ihrem Schlafgemach statt Doaty empfing, dass die junge Hexe kein Wort über die Lippen bekam.
„Meine Tochter kannst du nicht sein, denn die sollte brav in ihrem Bett liegen und von ihrer ominösen Krankheit genesen. Stattdessen schleicht sie über das Gelände wie eine Ratte und widersetzt sich meinen Gesetzen.", knurrte Cygnus durch die gefletschten Zähne hindurch und funkelte sie mörderisch aus seinen hellblauen Augen an. Seine Finger krallten sich in das Fleisch ihrer Unterarme und hinterließen deutliche Abdrücke, als er sie mit langsam aber sich zu sich heranzog. Stocksteif stand Bellatrix auf der obersten Leitersprosse und stemmte sich gegen seine Kraft, als hinge ihr Leben davon ab.
„I-Ich...hab nur...", begann sie, sich zu erklären. Hinter Bellatrix' Vater sah sie, wie die Hauselfe Doaty in einer Ecke ihres Zimmers den Kopf gegen Bella's Bettpfosten stieß und vor sich hin wimmerte. „...nur..."
„Nur gelogen!", beendete ihr Vater den Satz für sie. „Gelogen, um dich herumzutreiben, wie ein  billiges Flittchen, wie ein dreckiges Schlammblut ohne Ehre und Vernunft. Was hast du getrieben, he? WAS?!"
„Lass mich los!", schrie Bellatrix. Unter ihr wackelte die Leiter durch das Gerangel am Fenster bedrohlich hin und her. Doaty, die aufgehört hatte, sich zu malträtieren, kreischte angsterfüllt und schlug die Hände vor den Mund.
„Komm rein! Ich werde dir Anstand einbläuen, bis du sagst, wo du dich herumgetrieben hast."

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