Kapitel 12

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Meine Augen füllten sich mit mehr Tränen, als ich nur daran dachte, wie sich meine Familie und Freunde gegen mich wendeten. Ich konnte mir vorstellen, wie meine Eltern zusammen mit meinem Bruder Abends am Esstisch sitzen und wie sie sich gegenseitig enttäuschte Blicke zuwarfen. Es zerbrach mir mein Herz, wenn ich nur daran dachte. ''Ich dachte wirklich für 'nen kurzen Moment du würdest sowas wie Menschlichkeit zeigen.'', murmelte ich und schüttelte meinen Kopf. ''In Wirklichkeit bist du nur 'n herzloses Monster, dass versucht mein Leben genau so zu zerstören, wie du deines zerstört hast. Du kotzt mich an!'' Meine Stimme brach, als mir die Tränen meine Wangen hinunter kullerten. Marco's Griff um meine Hüfte wurde leichter. Sofort entfernte ich mich von ihm und rannte die Treppe nach oben, in das Schlafzimmer und schmiss mich auf das Bett. Es war leise, nur meine Schluchzer erfüllten den Raum, selbst die Vögel schienen für einige Momente still zu werden. Ich fühlte mich allein gelassen. Allein ohne Rückhalt, die einzige Person, die um mich herum war, war ein widerlicher Mensch, der kein Gewissen hatte und mein Leben mit allen Mitteln zerstören wollte. Das war's, er hat's geschafft: Langsam aber sicher gab ich mich auf. Ich würde hier nie wieder rauskommen. Das war mein neues Leben.


***


Ich öffnete meine Augen, als sich neben mir die Matratze bewegte. Sofort setzte ich mich wieder auf und starrte auf den Mann, der sich neben mich gesetzt hatte. Er schaute mich nicht an, sondern nur auf die Wand gegenüber von uns. Auch ich wendete meine Blick ab, wollte aufstehen, doch der Mann, den ich mittlerweile so verachtete, hinderte mich erneut daran. ''Ich kotz dich an.'', flüsterte er, was mich etwas erstaunte. Gingen ihm diese Worte nah? Er wendete seine Augen nun doch mir zu, das Mondlicht, das etwas durch die Fenster strahlte, ließ seine Augen aufglänzen. Es verlieh ihm etwas Menschlichkeit. ''Ich schätze, ich habe vergessen, wie es ist mit einem Mädchen zusammen zuleben.''

Ich schluckte kurz. War das nur wieder eine Masche von ihm? Eine Masche, damit ich nicht mehr sauer auf ihn war? Oder meinte er das alles doch ernst? Er klang nicht, wie ein gefährlicher Verbrecher - er klang wie ein normaler, junger Mann, dem etwas total leid tat. ''D-das ändert auch nichts daran, dass meine Familie nichts mehr von mir wissen will.''

Sein linker Mundwinkel zuckte etwas. ''Das stimmt.'' Seine Augen verließen nie meine, was mich etwas beunruhigte und nervös machte. Ich war deswegen die Erste von uns beiden, die den Blick abwendete. Ich hatte Angst, ich könnte doch noch etwas wie Menschlichkeit in meinem Entführer erkennen. Er war für mich ein herzloses Arschloch, ich wollte ihm nicht verzeihen. Nie wieder. ''Aber vielleicht hilft es ja etwas, dass du dich nicht total hängen lässt. Ich wohne schon seit mittlerweile 10 Jahren hier draußen, musste immer mal wieder umziehen. In der Zeit hatte ich nur meine Kumpels um mich. Mädchen waren nur vereinzelte Nächte bei uns, allesamt ebenfalls in dieser - ich sage mal: Zone - drin. Ich hatte keinen Kontakt mehr mit so schüchternen, unschuldigen und zarten Mädchen, seit dem ich von zu Hause abgehauen bin.'' Ich schluckte, ließ meinen Blick aber weiterhin auf meine Hände gerichtet. ''Ich schätze, ich muss erst wieder lernen, wie man mit Mädchen wie dir so umgeht.''

Ich war wie gelähmt, konnte nichts sagen und hoffte einfach, dass nichts passieren würde, was mir Angst machte. Er schien irgendwie zu Vernunft gekommen zu sein, was ich nicht provozieren wollte, in dem ich irgendwas falsches sagte. Ich wollte einfach nur leise sein, das alles so stehen lassen und schlafen. Doch plötzlich griff Marco nach meinem Kinn und zwang mich, ihn anzuschauen. Seine braun-grünen Augen trafen auf meine und mir stockte der Atem, als ich sowas wie ein entschuldigender Ausdruck in seinen Augen wahrnehmen konnte. War er total verrückt geworden? Wieso wollte er sich plötzlich bei mir entschuldigen?

Hard TimesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt